Was wäre, wenn? Dieter Kühn schrieb Biografien darüber, wie es auch hätte kommen können. Er widmete sich Gestalten aus den unterschiedlichsten Epochen. Mit 80 Jahren ist der vielfach ausgezeichnete Autor nun gestorben.

Brühl - Dieter Kühn schrieb Biografien, die manchem Historiker die Haare zu Berge stehen ließen. Anstatt sich an die Fakten zu halten, schickte er Beethoven mit dem Sohn eines afrikanischen Sklaven auf eine Schiffsreise oder ging der Frage nach, warum Napoleon nicht Schriftsteller geworden ist.

 

Am Samstag ist der Schriftsteller, der zuletzt in Brühl bei Köln lebte, im Alter von 80 Jahren gestorben. In seinem Buch „Ich war Hitlers Schutzengel“ trieb Kühn den Ansatz auf die Spitze: Nun malte er sich aus, was geschehen wäre, wenn Hitler am 8. November 1939 im Münchener Bürgerbräukeller dem Attentat von Georg Elser zum Opfer gefallen wäre. Außerdem gibt Hitlers Schutzengel einen Rechenschaftsbericht ab. Bei dem mittelalterlichen Kirchenlehrer Thomas von Aquin hatte Kühn gelesen, dass jeder Mensch, egal wie böse, einen Schutzengel hat. Seine Folgerung: Hitler, der mehrmals knapp dem Tod entging, hatte dann einen besonders tüchtigen Begleiter.

Jede Biografie ist durch die Perspektive des Autors geprägt

Kühn nahm den Historikern nicht ab, dass ihre Lebensbeschreibungen so objektiv sind, wie sie scheinen. Jede Biografie sei viel stärker durch die Perspektive des Autors geprägt, als sich dieser normalerweise eingestehen wolle, meinte er. Ihn störte die scheinbare Unvermeidlichkeit vieler nacherzählter Lebenswege.

In Wahrheit hätte doch oft nicht viel gefehlt, und alles wäre ganz anders gelaufen! „Das ist bei mir selbst ja auch nicht anders. Wir haben 1941 einen der ersten Bombenangriffe auf Köln miterlebt“, sagte er vor fünf Jahren in einem Gespräch zu seinem 75. Geburtstag. Die Mutter mietete sich mit ihm in einer Pension in Berchtesgaden ein. „Auf diese Weise sind mir 200 Bombenangriffe auf Köln erspart geblieben. Manchmal frage ich mich, was geschehen wäre, wenn meine Mutter damals gesagt hätte: „Ach, das wird schon nicht so schlimm kommen.““

Kühn hat als sehr produktiver Autor über Gestalten aus den unterschiedlichsten Epochen geschrieben. Sein erfolgreichstes Buch wurde „Ich Wolkenstein“ über den weit gereisten Ritter-Poeten Oswald von Wolkenstein (1377-1445). Er schrieb auch Biographien über die Musikerin Clara Schumann oder die Lyrikerin Gertrud Kolmar.

Besonders charakteristisch für Kühns Herangehensweise ist sein Buch über die Insektenforscherin und Stilllebenmalerin Maria Sibylla Merian (1647-1717). Von ihr sind nicht mehr als zehn Briefe erhalten. Wie sie über ihre Arbeit, über ihre Zeit gedacht hat, ist nahezu unbekannt. Dennoch füllt Kühns Buch 650 Seiten, weil er jeden Aspekt, der auch nur im entferntesten ihr Leben betrifft, ausführlich erörtert. Die besten Passagen entwerfen ein atmosphärisch dichtes Zeitgemälde.

Kühn studierte in Freiburg, München und Bonn und promovierte mit einer Arbeit über Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“. Er erhielt viele Auszeichnungen, im vergangenen Jahr ehrte ihn das Land Rheinland-Pfalz mit der Carl-Zuckmayer-Medaille für sein Lebenswerk. Gewürdigt wurde er als herausragender Schriftsteller „von großer erzählerischer Kraft und mit unbändiger Lust an der Sprache“. Er sei „einer der gescheitesten und stilistisch beeindruckendsten Romanciers, Biografen und Essayisten deutscher Sprache“. 2013 erschien seine Autobiographie „Das Magische Auge“.