Der Polizist Hannes Doreich macht Urlaub in einem Gartenhüttchen. Er macht ein paar Beobachtungen, die ihn zu dem Schluss führen, dass in der Hütte nebenan ein entführter Unternehmer gefangen gehalten wird. Aber er unternimmt nichts. Dieter Paul Rudolph stellt wieder mal den Krimi auf den Kopf.

Stuttgart - Langeweile ist eine öde Bedrückung, die einem viele Amateurkrimis schon mit der ersten Seite bescheren. Da verschaffen sich die Autoren während des Tippens selbst zunächst einmal einen Überblick über die Szenerie. Sie schreiben alles auf, was sie sich zu ihrer Figur und deren Umfeld ausdenken, alles Alltägliche, Banale, Unwichtige. Sie können nichts weglassen, weil sie noch gar nichts im Kopf haben. Erst wenn es aufgeschrieben ist, ist es auch in ihrer Fantasie vorhanden. Sie können nichts pointieren, verfremden, gewichten, weil noch gar nichts da ist. Erst wenn es auf dem Papier oder dem Bildschirm steht, ist es erschaffen. Das Leben eines Krimikritikers besteht in manchen Wochen vor allem aus dem Lesen erster Seiten und dem ermüdeten Zuklappen unbewältigbarer Bücher.

 

Dieter Paul Rudolph hat mit „Die norwegische Küste“ einen Horrorroman geschrieben, der all den Schrecken des Gelabers zu umfassen scheint. Der Kommissar hier kommt nicht zu Potte, ja, diese Trantüte ist nicht einmal im Dienst. Sie befindet sich im Urlaub. Und sie hat nicht vor, aktiv zu werden. Massiver Spoiler: dieser Beamte bleibt diesem Vorsatz treu.

Versteckt im fremden Gartenhäuschen

Der Fall, um den es geht, bleibt unklar. Über das Einkaufsverhalten des Polizisten Hannes Doreich bei der Bäckerei in der Nähe des Gartengrundstücks, auf dem er sich versteckt, erfahren wir Genaueres als über das Verbrechen. Seinen Kollegen hat Doreich gesagt, er fahre nach Frankreich, aber dazu ist er zu antriebsarm. Also schlurft er, um keinem Kollegen in die Arme zu laufen und doch nicht nur zu Hause zu hocken, täglich in den Schrebergarten eines Bekannten, um dort vor sich hin zu trielen.

Nur dass Rudolph dieser Absturz in die Dumpfheit nicht versehentlich unterläuft. Dies ist eine vorsätzliche Expedition ins Innere des Krimis, hinter die Vorhänge des Spannungstheaters. Der Ermittler ist mit seinem popeligen Ich beschäftigt, die Dramatik versteckt sich hinter beliebig interpretierbaren Popelindizien, der große Fall ist auch nur ein Partikel des weißen Inforauschens, das fortwährend über uns hinweggeht.

Rudolph betätigt sich seit Jahr und Tag, schreibend, theoretisierend und kuratierend, als Abbrucharbeiter der Achterbahn Erlebniskrimi – nicht, weil er den rasanten Fahrbetrieb für den inneren Schweinehund ganz und gar ausgelöscht haben möchte, sondern weil ihn interessiert, was sich hinter dem Schienengeschlinge vielleicht alles dem Blick entzieht.

Vorstellen statt Querstellen

In „Die norwegische Küste“ wird hinter der Aktionsfreudigkeit des Krimis – einer denkt die gefälschte Welt neu, langt hin und richtet sie wenigstens an einer kleinen Ecke und vorübergehend wieder gerade – Trägheit sichtbar. Einer sinniert, statt einzugreifen, spekuliert so unzufrieden wie ziellos mit Möglichkeiten, statt energisch aus dem Denkbaren das Tatsächliche auszusieben. Er stellt sich etwas vor, aber er stellt sich nicht quer zum bösen Handeln der anderen. Und das obwohl er Polizist ist, also x-fach eher zum Eingreifen verpflichtet und befähigt als mancher Hobbyermittler der Krimigeschichte.

Der Polizist Hannes Doreich beobachtet in seinem Urlaubsversteck also das Treiben auf dem Gartengrundstück nebenan. Wie da täglich zwei Leute mit Tüten kommen und nur kurz bleiben, wie da eine Narbe im Rasen darauf hinweist, dass gegraben wurde, und eine halbgar hingestellte Zeltkonstruktion den Gedanken aufruft, eben diese Narbe in der Erde solle vor Blicken aus der Luft verborgen werden. Gerade ist ein Unternehmer entführt worden, ein zwielichtiger Firmenretter, bei dessen Sanierungsmaßnahmen am Ende die Fabriken dicht und die Arbeitnehmer draußen, aber ein paar Millionen bei ihm hängen geblieben sind. Doreich legt diese Infosplitter zu wechselnden Bildern aneinander.

Auf Harkenweite am Verbrechen dran

Eigentlich ist er die meiste Zeit ziemlich sicher, dass der Entführte sich nebenan befindet, je nach Gedankenmodell lebendig oder tot, bewacht oder unbewacht. Mehr als die Grundfrage, ob er überhaupt auf Harkenweite am Verbrechen dran ist, beschäftigt Doreich die Denkaufgabe, in welchem Zusammenhang die Entführung steht, ob es um Lösegeld geht oder um eine Mafia-Abrechnung, ob eine Geheimdienstintrige vorliegt oder die ablenkende Selbstinszenierung eines Wirtschaftskriminellen.

Nie aber laufen die Grübeleien auf einen Handlungsimpuls zu, nie hat Doreich vor, auch nur als Tippgeber Kollegen zu kontaktieren. Dass derweil in seinem Wohnhaus, wo er die andere Hälfte des Tages verbringt, auch ein Verbrechen geschehen sein könnte, dass die Wahrnehmungen, die er macht, während er in verdruckster Triebigkeit die Nachbarin über sich belauscht, zu einer Verbrechensgeschichte montieren ließen – das fällt ihm nicht einmal auf.

Im Nebel der Spekulationen

Dieter Paul Rudolph erzählt in der dritten Person, aber ganz nahe an Doreichs Wahrnehmung und aus dessen miefigem Hirnstübchen heraus. Das hat den Vorteil, dass er ambivalente Passagen schaffen kann, in denen vielleicht Doreichs muckerisch umhertastende Fantasie die Gegenentwürfe zum eben Kombinierten erprobt. Wobei sie auch prüft, wie weit Doreichs Anwesenheit gleich neben dem Versteck eines Entführten nicht Zufall, sondern gelenkter Teil einer Intrige sein könnte.

Vielleicht aber sind einige dieser imaginierten Beobachtungen Doreichs und fremde Stimmen von außen nicht dessen Kopfkino, sondern wirklich äußere Realität. Vielleicht blendet Rudolph da immer mal wieder auf eine Umgebung, die mehr ist als der Nebel der Spekulationen. Das ist eine perfide Ambivalenz: Je realer diese Einsprengsel sein sollten, desto irrealer wäre der Rest des Buchs mit Doreichs Wolkenschieberei der Hypothesen.

Gehirntiger und Statusmaus

Dieser kleinbürgerliche Polizist ist eine sehr böse Absage an eine Zentralfigur der Gattung Krimi, an den tätigen Ermittler. Er hat aber, wie viele Figuren in Rudolphs Büchern, noch andere Aufgaben. Auch er ist eine Variante des kleinbürgerlichen Beobachters und Krittlers aus dem Kosmos von Arno Schmidt, eine Mischung aus Gehirntiger und Statusmaus.

Bei Schmidt ist das Nichteingreifen, das Nichteingreifenkönnen in den Wahnsinn der Welt, Beleg für deren Miesheit und die moralische Restintegrität des Unzugehörigen. Rudolph pult die Schmidt-Figur aus ihren diversen Lagen Bildungslivree und stellt sie noch kümmerlicher und nackter vor uns hin, er dimmt auch die Durchleuchtungskraft ihres Intellekts erheblich.

Ein Leser wie wir

Im Falle Doreich gerät das nicht einmal zur Denunziation. Es wird zur fast gutmütig ermahnenden Spiegelung des Lesers. Doreich schmökert und deutet das Geschehen auf dem Gartenstückchen nebenan wie wir ein Buch. Er will nicht eingreifen, nur schauen, wie’s weitergeht. Er ist also die konsequentere Umsetzung der James-Stewart-Figur in Alfred Hitchcocks „Rear Window – Fenster zum Hof“, die vom Gipsbein in den Beobachterstuhl am Fenster gezwungen, im Nachbarn einen Mörder ausmacht.

Der Beobachter muss dem Treiben zunächst so zuschauen wie wir einem Film, kann dann aber eben doch ins sich dem Blick Darbietende und ins dem Blick Entzogene hineinwirke. Doreich bleibt ein Zuschauer. Was sich ändert, ist nur der Grad der Unschuld dieses Zuschauens: Es nähert sich mehr und mehr der unterlassenen Hilfeleistung an.

Wer also einfach den nächsten Reißer sucht, ist hier fehl am Platze. Das lässt aber schon der Titel „Die norwegische Küste“ ahnen (dessen Bedeutung wir hier nicht verraten, so viel Spannung soll dann schon sein). Wer den Krimi und das eigene Krimilesen mal wieder mit ein paar kräftigen Schienbeintritten in Frage gestellt bekommen möchte, ist hier dagegen goldrichtig.

Dieter Paul Rudolph: „Die norwegische Küste“. Roman. Selbstverlag bei der Amazon-Tochter CreateSpace in Kooperation mit „Der dritte Raum“. 251 Seiten, Paperback. 10,90 Euro. Auch als E-Book, 2,99 Euro.