Bad Cannstatt hat ein Original verloren. Am Montag ist der Wengerter und Wirt Dieter Zaiß gestorben. Er hat mit seinen Liedern für Stimmung gesorgt.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)
Stuttgart - Es ist immer mal wieder passiert, dass Dieter Zaiß bei einer Sitzung einschlief mit leicht rotem Kopf, vor sich ein Viertele auf dem Tisch. Niemand aus Bad Cannstatt hat ihm seine Nickerchen krumm genommen. "Er war sowieso immer hellwach, sobald ein Thema aufkam, das ihn betraf", sagt Wulf Wager vom Cannstatter Volksfestverein und dem Cannstatter Kübelesmarkt. Wie Dieter Zaiß sofort derart präsent sein konnte, sei ihm immer ein Rätsel gewesen. "Woisch, wie I moin, du Baureseggl", pflegte der Wengerter und Wirt auf Schwäbisch zu sagen, um seine Worte zu unterstreichen.

In Bad Cannstatt wird gerne die Anekdote erzählt, wie Dieter Zaiß, es mag vielleicht zwanzig Jahre her sein, einmal in seinem Weinberg in Münster alte Weinbergpfähle verbrannte, sich anschließend in seinem Wengerterhäuschen einen guten Tropfen genehmigte-und einschlief. Aufgeweckt wurde er von der Feuerwehr, die ausgerückt war, um den Weinvogt zu retten. Diesen inoffiziellen Adelstitel hatte Zaiß vom Cannstatter Kübelesmarkt, einer schwäbisch-alemannischen Narrenzunft, verliehen bekommen. "Er war ein Original", sagt Wulf Wager.

Ein Brunnen mit Zapfhahn


Der Bezirksvorsteher Thomas Jakob nennt Zaiß "einen Entertainer und großen Lokalpatrioten". "Bad Cannstatt hat eine Person verloren, die nicht ersetzbar ist", sagt Zaiß' langjähriger Freund Wolfgang Pfeffer, der in dem Stadtbezirk von den meisten nur "Cannstatter Büttel" genannt wird.

Bad Cannstatt ohne Dieter Zaiß, der immer wieder so verrückte Ideen ausheckte wie den Wettbewerb, 100 Kilogramm schwere Steine um die Wette durch das Weingut zu schleppen? Der in den Erbsenbrunnen einen Zapfhahn samt Schlauch einbauen ließ, damit beim alljährlichen Erbsenbrunnenfest der Trollinger fließen kann? Der bei den Festen mit seinen Liedern für Stimmung sorgte? Das ist für viele nicht vorstellbar. "I brauch a Cannstatter Zuckerle, wenn i durstig bin, i brauch a Cannstatter Zuckerle, wenn i lustig bin", keiner konnte das so rüberbringen wie der Wirt der Weinstube Zaiß. "Er war jemand mit viel Witz, aber er war auch mit Ernst bei der Sache", sagt Wolfgang Pfeffer.

Mit seinem ausladenden Bauch sah Dieter Zaiß immer gemütlicher aus, als sein Wesen war: Der umtriebige Wengerter war in der Stadt über Jahrzehnte quasi allgegenwärtig. 1970 gehörte er zu den Gründern des Cannstatter Brezelfests, dem bis heute viele hinterhertrauern. Wenige Jahre später soll er mit Peer-Uli Faerber das Weindorf ausgeheckt haben. Zaiß sorgte immer wieder bei den Eröffnungen mit seinen Liedern für Stimmung.

Während der Fasnet ist die Weinstube des singenden Ehrenweinvogts in der Erbsenbrunnengasse traditionell Regierungssitz der Narren vom Cannstatter Kübelesmarkt. Noch vor wenigen Jahren stand Zaiß beim Fischerstechen auf dem Neckar vorne im Kahn und war nicht umzustoßen. "Er war nicht wendig, aber standfest", sagt sein Bruder Siegfried, mit dem sich Dieter Zaiß den Festbetrieb geteilt hat. Gemeinsam betrieben sie beispielsweise das Weinzelt auf dem Wasen, schenkten auf dem Lichterfest und beim Sechstagerennen aus. Siegfried kümmerte sich um alles Technische und Organisatorische, Dieter um das Repräsentative. Wein auf dem Volksfest? Manch einer hätte vor 23 Jahren nicht gedacht, dass das gutgeht. Und weil Dieter Zaiß Tradition und Geschichte schon immer wichtig war, ließ er damals das Zelt aus den Resten des abgerissenen Cannstatter Oberamts bauen.

"Öchsle im Wei"


Beim vergangenen Volksfest stand Dieter Zaiß wie immer jeden Tag im Zelt, um zu singen. Auf dem Wasen benötigte er ein Mikrofon, bevorzugt sang der stimmgewaltige Wengerter aber ohne. "Er hatte lieber ein Viertele in der Hand", sagt einer seiner Weggefährten. Aus "Griechischer Wein" wurde bei Dieter Zaiß "Cannstatter Wei, des isch koi Ranzaspanner, leer's in di nei, do wird koi Mädle schwanger". Auch "Stäffele nuff" gehörte zu den Klassikern. Oder auch: "Ich brauch keine Ochsen im Stall, hab meine Öchsle im Wei."

Das Singen habe ihm immer besonders am Herzen gelegen, sagt Wolfgang Pfeffer, der mit Zaiß schon in die Schule gegangen ist - allerdings eine Klassenstufe tiefer. Im Gesangverein Harmonie war Zaiß bis zuletzt der Vorsitzende. Und regelmäßig kam ein privater Musiklehrer in das Wirtshaus in der Erbsenbrunnengasse, um mit Zaiß zu üben. Auch wenn er gerade mitten bei der Arbeit war, eines stand fest: Die Singstunde hat Vorrang. Notenlesen sei nicht so seine Sache gewesen, erzählt Siegfried Zaiß. Auch als Jugendlicher sei sein drei Jahre älterer Bruder Dieter kein begeisterter Schüler gewesen. Statt zu schreiben und zu lesen, wollte Dieter Zaiß lieber raus in den Weinberg. Seit 1897 wird in der Familie Wein angebaut. Den 3,35 Hektar großen Betrieb in Münster gegenüber vom Max-Eyth-See hat inzwischen sein Sohn übernommen, der Weinbautechniker Andreas Zaiß. Dort reifen Trollinger, Lemberger, Dornfelder, Riesling, Kerner.

Wie groß der Name Dieter Zaiß in der Szene war, zeigt auch, dass ihm erst Ende September der Ehrenpokal des Weinbauverbands Baden-Württemberg verliehen wurde - eine seltene Auszeichnung. Dieter Zaiß war eine Marke für sich und brauchte keine teure Werbeagentur, um für den Württemberger Wein zu werben. Seine Präsenz machte ihn zum Botschafter. Wirklich schlank sei sein Bruder nie gewesen, sagt Siegfried Zaiß, doch es soll auch Bilder aus den 60er Jahren geben, in denen der junge Dieter noch keinen Bauch hatte. Seine Mutter pflegte allerdings zu sagen, sie habe drei Söhne: einen dicken, einen gescheiten und einen langen. Der dicke war Dieter Zaiß, der gescheite war Werner Zaiß, der sein Abitur mit 1,0 gemacht hat, später das Kernkraftwerk Neckarwestheim aufbaute und leitete, und der lange war Siegfried Zaiß, 15 Zentimeter größer als Dieter.