Marcel Fratzscher, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, ruft die Europäische Zentralbank zum Handeln auf. Im Interview mit der Stuttgarter Zeitung empfiehlt er massive Anleihen-Käufe.

Korrespondenten: Barbara Schäder (bsa)

Stuttgart - Die sinkenden Teuerungsraten in Deutschland und Europa haben eine Debatte darüber ausgelöst, ob die Preise abstürzen und die wirtschaftliche Erholung gefährden könnten. Zu den prominentesten Mahnern zählt der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher. Er fordert schon jetzt einen Eingriff der Europäischen Zentralbank (EZB).

 
Noch steigen die Preise im Euroraum. Warum warnen Sie vor einer Deflation?
Mit zuletzt 0,5 Prozent ist die Inflationsrate im Euroraum tatsächlich noch positiv, aber dies ist deutlich unter der EZB-Definition der Preisstabilität von knapp unter zwei Prozent. Die Preise von fast einem Drittel aller Güter und Dienstleistungen sinken bereits in Ländern wie Italien, Spanien und Frankreich. Eine solche Entwicklung birgt zwei Gefahren: Erstens kann sie die Investitionen von Unternehmen lähmen. Schließlich müssen die ihr Personal und Vorleistungen bezahlen, wissen aber nicht, ob sie diese Kosten bei sinkenden Preisen am Ende wieder hereinbekommen. Zweitens erschwert eine Deflation den Abbau von Schulden. Sagen wir, ich zahle auf einen Kredit nominal vier Prozent Zinsen. Wenn die Inflationsrate sinkt, steigt der reale Zinssatz und damit auch die Schuldenlast von Unternehmen, Privathaushalten und Staaten. Sinkende Investitionen und Probleme beim Schuldenabbau können dazu führen, dass die Beschäftigung und die Nachfrage zurückgehen und die Preise noch weiter sinken. Normalerweise könnte die Europäische Zentralbank hier mit einer Senkung des Leitzinses gegensteuern, doch der liegt ja schon fast bei Null.
Was kann die EZB dann tun?
Die EZB könnte direkt in den Markt eingreifen und private und öffentliche Anleihen kaufen, um die Kreditzinsen zu senken. Da sich kleine und mittlere Unternehmen kaum über Anleihen finanzieren, kann die EZB ihnen auf dem Umweg über Staatsanleihen helfen. Der Mechanismus dahinter: Mit dem Kauf von Staatsanleihen wird das Angebot an sicheren Papieren verknappt. Das zwingt die Banken dazu, in private Anleihen zu investieren und auch mehr Kredite zu vergeben, um Erträge zu erwirtschaften.
Wie erklären Sie das Ziel noch niedrigerer Zinsen den deutschen Sparern?
Zunächst einmal würden die Zinsen auf deutsche Staatsanleihen durch EZB-Käufe wahrscheinlich nicht groß weiter sinken, denn die Investoren würden eher auf riskantere Anleihen ausweichen. Ein leichter Rückgang der Renditen von Bundesanleihen um 0,1 oder 0,2 Prozentpunkte würde die Zinsen auf Spareinlagen kaum beeinflussen. Wer wiederum sein Geld breiter streut, auch in Fonds, private Anleihen und im Ausland investiert, könnte von der steigenden Nachfrage dort sogar profitieren.
Da muten Sie den Leuten aber einiges zu – zur Abwehr einer Deflation, die nach Ansicht vieler Experten unwahrscheinlich ist.
Es ist sicherlich nicht so, dass wir hier von einem Risiko von 80 Prozent reden – der IWF beispielsweise spricht von 20 Prozent. Mit Blick auf die Kosten einer Deflation ist das aber ein gewaltiges Risiko. Im schlimmsten Fall könnte sie zu einem Rückfall in die Rezession führen. Deshalb macht es Sinn, gegen ein solches Szenario eine Versicherung in Form einer EZB-Intervention zu kaufen. Zumal die Notenbank mit dem Erwerb von Staatsanleihen die Investitionen ankurbeln würde. Dass es dadurch zu einer Inflation kommt, wie hierzulande oft befürchtet wird, glaube ich nicht. Denn die europäische Wirtschaft produziert weit unter ihrem Potenzial. Das heißt: Der Nutzen eines entschlossenen Eingreifens wäre größer als die Kosten. Es gibt Kosten – beispielsweise die Gefahr einer Blasenbildung an den Aktienmärkten – aber der Nutzen wäre deutlich höher.
Allerdings nähme die EZB mit massiven Anleihe-Käufen Risiken auf ihre Bilanz, für die wir am Ende alle haften müssten.
Es gehört zum Mandat der EZB, Liquiditätsrisiken auf sich zu nehmen. Und es ist auch richtig, dass die Bundesbank und damit letztlich auch der deutsche Steuerzahler für die Anleihekäufe mithaftet. Bei den bisherigen EZB-Programmen hat die Bundesbank durch die Zinseinnahmen auf die gekauften Anleihen allerdings hohe Gewinne erwirtschaftet. Natürlich nimmt sie dabei Risiken auf die Bilanz – dafür hat sie allerdings hohe Rückstellungen gebildet. Der Erfolg der EZB gibt ihr bisher Recht.