Der Paranoia-Großmeister der US-Postmoderne meldet sich zurück. Doch Don DeLillos neuer Roman „Null K“ ist eine stille Meditation über Tod und Unsterblichkeit.

Stuttgart - Das Zentrum des „Konvergenz”-Projekts liegt irgendwo zwischen Sibirien und Usbekistan und sieht aus wie ein Sciencefiction-Kloster, klinisch steril, geschäftsmäßig kalt, zeit- und ortlos. Verkauft wird hier das ewige Leben, die Kyrostase. „Jeder will das Ende der Welt in seiner Hand haben“, und wer genug Geld und Vertrauen in die Zukunft hat, kann sich in der Hoffnung auf ein Auftauen in besseren Zeiten bei 196 Grad minus einfrieren lassen. In der Wüste Arizonas gibt es übrigens bereits einen solchen Wartesaal der Wiederauferstehung, die Alcor Life Extension Foundation.

 

In Don DeLillos Roman begegnen sich drei Menschen, verbunden durch eine gemeinsame Geschichte, im High-Tech-Friedhof. Für den Multimillionär Ross Lockhart ist der Kälteschlaf eine Investition, geschäftlich wie persönlich. Für seine zweite Frau, die Archäologin Artis, ist er die letzte Hoffnung: Sie legt ihren unheilbar kranken Körper provisorisch auf Eis. Der Erzähler, Ross‘ Sohn Jeffrey, steht zwischen der technokratischen Hybris des Vaters und der archäologischen Verzweiflung seiner Stiefmutter: Ein arbeitsloser Träumer, der das Hier und Jetzt und die Erinnerungen an eine glückliche Kindheit einer ungewissen Zukunft vorzieht.

Komische Perspektiven und religiöse Horizonte

„Null K“ ist eine moderne Orpheus-Variation, ein „Zauberberg“, auf dem menschlicher Machbarkeitswahn Zeit und Tod suspendiert, ein „Märchen für Kinder“ und ein klassisches Vater-Sohn-Drama: Der Vater will Gott spielen, der Sohn eigene Wege gehen. Vor allem aber ist „Null K“ eine Meditation über Tod und Unsterblichkeit, angesiedelt am absoluten Nullpunkt der Sprache. Don DeLillo erwarb sich seinen Ruf als „Paranoia-Großmeister“ der US-Postmoderne mit hellwachen, überlebensgroßen Gesellschaftspanoramen wie „Sieben Sekunden“ oder „Unterwelt“. Darin konfrontierte er, ähnlich wie seine Risikoanalytiker und Aktionskünstler, die Zahlen und Gleichungen von Politik, Wirtschaft und Krieg mit den fiebrigen Visionen und Verschwörungstheorien von Sektierern, Propheten und Terroristen und verfolgte gebannt, wie sich die Bilder globaler Katastrophen im weißen Rauschen der Monitore auflösten.

Aber die epische Totale und die postmodernen Spiele hat DeLillo längst hinter sich gelassen. Je älter er wird (am 20. November feiert er seinen achtzigsten Geburtstag), desto mehr versenkt er sich in einer Art profaner Mystik, in der erleuchteten Zusammenschau von „submikroskopischen Momenten“ mit kosmischen Perspektiven und religiösen Horizonten. DeLillo gibt schon lange keine Antworten mehr; er stellt nur noch Fragen. Die Metaphysik des Seins ist ihm wichtiger als die Physik der Realität, der Klang der Stille übertönt das „Summen der Welt“. Nicht zufällig zitiert er auch in „Null K“ wieder Denker wie Augustinus und Heidegger und zenbuddhistische Rätsel.

Das Mysterium von Fusselrollern

DeLillos Prosa wird immer karger, kühler, mönchischer, aber verglichen mit fast schon spirituellen Offenbarungen wie „Körperzeit“ oder „Der Omega-Punkt“ ist diese „Ode an das ewige Leben“ zugänglich und emotional bewegend in seiner melancholischen Trauer. Sätze wie „Denkt weiter als die gottgleiche Berührung von greifnahen Milliarden. Macht den existenziellen Sprung. Schreibt das üble, trübe Trauerdrehbuch des üblichen Sensentodes neu“ muss man allerdings schon zweimal lesen. Jeffreys ständige Suche nach den richtigen Wörtern und Namen, seine fragile Identität („Ich bin jemand, der angeblich ich ist“), sein Interesse für die Mysterien von Geldautomaten und Fusselrollern sind nicht jedermanns Sache. Am Nullpunkt des Seins reduziert sich Sprache auf das Wesentliche, wenn nicht auf das Schweigen.

Im Konvergenz-Hospiz ist jeder ein Experte des Todes, Zeichen und Symbol: Stumme Frauen mit Tschador, brennende Mönche, Nomaden, „Witzbold-Visionäre“ wie die Stenmark-Zwillinge, Sterbehelferinnen mit so exotischen Namen wie Nadya Hrabal, ein kafkaesker Hüter der Schwelle namens Ben-Esra. Was sie über Tod und Unsterblichkeit sagen, lässt sich keiner bestimmten Figur zuordnen und wirkt manchmal so, als ob sie schon aus dem Totenreich zu den Lebenden sprächen. In der Mitte des Romans lösen sich Handlung und Charaktere vollends in einem Katalog von Fragen, Rätseln und Aphorismen auf: „Bin ich jemand oder sind es nur die Wörter die mich denken lassen ich wäre jemand“. Was geschieht, wenn man im Dunkeln die Augen schließt? Und „wozu überhaupt leben, wenn wir am Ende nicht sterben?“

Epiphanie göttlicher Schönheit

Aber „Null K“ ist zum Glück nicht nur transzendentale Meditation mit Totenschädeln, Mumien und kopflosen Schaufensterpuppen: Der Roman enthält auch wehmütige Kindheitserinnerungen und luzide Gegenwartsanalysen. Der Fluch der Zeit ist, dass wir zunehmend unsere Autonomie auf- und unsere Verantwortung abgeben an virtuelle Räume und technische Apparaturen. Netzwerke und Systeme blockieren „den Fluss all jener Aspekte von Natur und Charakter, die uns von Fahrstuhlknöpfen und Türklingeln unterscheiden.“ Wir werden überwacht, vermessen, gesteuert durch Sensoren, Daten und Algorithmen, die wir nicht mehr in der Hand haben: „Verunsichert Sie da was? Denken Sie an den Technovirus, den Zusammenbruch aller Systeme, die globale Implosion? Oder ist es persönlicher?“

Fragen über Fragen, Gründe genug für Alpträume im Kälteschlaf und Social Freezing. Aber am Ende lässt Don DeLillo in seiner kristallklaren, ausgehärteten Sprache noch einmal den alten Glanz von New York aufleuchten: Das Licht der untergehenden Sonne auf dem Gitternetz der Straßen von Manhattan ist eine Epiphanie göttlicher Schönheit in der Dunkelheit einer transhumanen, technokratischen, paranoiden Moderne.

Don De Lillo: Null K. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 280 Seiten, 20 Euro.