Eines der bedeutendsten Treffen für Neue Musik hat am Wochenende die Musikfreunde in den Schwarzwald gelockt. Die Donaueschinger Musiktage boten viel Abwechselung.

Donaueschingen - Sechshundertvierundachtzig. Die Zahl steht auf Handzetteln und Aufklebern. Christian Ostertag, der Konzertmeister des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg (SO), hat sie sich auf den Rücken gepappt. Am Freitag, bei der Eröffnung der Donaueschinger Musiktage, hatte das SO – und nebenbei bemerkt: ebenso das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR – noch genau 684 Tage eigenständiger Existenz vor sich. 2016 kommt es zur folgenschweren Orchesterzwangsehe. Der Schmerz bei diesem Neue-Musik-Treffen ist nicht so hell und brennend wie vor zwei Jahren, als die Fusion gerade beschlossen worden war, doch der drohende Verlust einer Instanz der deutschen Musikszene bleibt gerade in Donaueschingen bitter: mehr als vierhundert Uraufführungen hat das SO seit 1950 hier bestritten. Auch dieses Jahr wieder agierte es unter der Leitung von Emilio Pomàrico sowie seinem Chefdirigenten François-Xavier Roth fabelhaft.

 

Dieses Jahr gab es wenig Elektronik

Altmeisterliche Orchesterfarben-Anmischer wie Friedrich Cerha mit dem Stück „Nacht“, das fallende Sternschnuppen geradezu greifbar vor Ohren führte, und Hanspeter Kyburz machten es dem Orchester allerdings leicht. Denn die Herausforderungen der Partituren gingen über etablierte Spieltechniken nicht hinaus. Kyburz’ „Ibant obscuri“ ist ein Selbstgänger: plastisch wie ein Comic, vital, gestisch, mit geschickt eingesetzten Ruhemomenten. Ausgreifender in den Realisierungsanforderungen, kaum im Ertrag, Hans Zenders Ziselieren beim Integrieren des siebten und elften Obertons in das temperierte System. Sein Werk „Oh cristalina . . .“ scheitert am ungeschulten Ohr – was am Ohrbesitzer, nicht an Zender liegt. Freilich wurde man den Verdacht nicht los, dass das SWR-Vokalensemble Stuttgart die um einen Viertel-, beziehungsweise Sechstelton niedrigeren Naturtöne nicht exakt traf.

Donaueschingen, mit 19 Uraufführungen, Lesungen, Performances, Ausstellungen, Klanginstallationen, vom Streichquartett mit Video (dilettantisch Chris Newmans „Explanation“) bis zum trockenen Brecht’schen Sprechchor (Michael Lentz’ „Hotel zur ewigen Lampe – operative Vorgänge“) – das waren geballte zweieinhalb Tage, die kaleidoskopisch einen Widerhall heutigen Komponierens boten. Zwar entfiel weitgehend der Einsatz von Elektronik, digitaler Manipulation als eigenständigem „Instrument“, aber diese Ausgabe war von einer Pluralität, die sich mit der zerborstenen ästhetischen Vielfalt unserer Zeit traf.

Zwei Altmeister setzten Höhepunkte

Sicher, seit der Ars Subtilior gibt es kein verbindliches Kompositionsmodell mehr, doch es gab und gibt Moden und Ideologien, Kraftfelder. Und im kreativen Vatermord versicherten sich frühere Generationen untereinander. Das ist vorbei, was die Sache weniger greif- wie überschaubar macht. Von den Kriterien nicht zu sprechen.

Wenn es ums Handwerkliche geht, fand sich viel unzweifelhaft Solides. Werke wie Wolfgang Rihms Trompetenkonzert „Sound as Will“, das aber mehr die chamäleonhafte Geschmeidigkeit des Großmeisters aus Karlsruhe als diesmal dringliche Originalität bestätigte. Oder Brice Pausets „Un-Ruhe (1. Heft)“ für Stimme, Cembalo und Orchester, ein feines, französisch elegantes Werk, mit dem Komponisten am von ihm selbst gebauten Instrument, das so schnell verwehte, wie es aufgeführt war. Selten fielen die Beherrschung der Mittel, eine treffende Zeitökonomie und das erinnerbare Gesicht eines Werkes zusammen.

Genau das ergab, immerhin, zwei Höhepunkte: Salvatore Sciarrinos „Carnaval“ für fünf Stimmen und zehn Spieler feierte die Schönheit des Torsos. In den Morast des Belcantos abgesunkene Partikel vokaler Vollkommenheit holt Sciarrino wieder an die Oberfläche, dort wurden sie von den Neuen Vocalsolisten Stuttgart aufs Wundersamste poliert – klang dieses Ensemble jemals runder? Ließ der Sopran einen Ton anschwellen, durch glockige Bebung rubinrot leuchten, war nichts weniger als die uralte Technik der Messa di Voce zu entdecken – unverbraucht und fesselnd.

DerKomponist Manos Tsangaris narrte die Hörer

Und dann spielte das Ensemble Modern unter der Leitung von Jonathan Stockhammer (insgesamt phänomenal die lässige Versiertheit aller Interpreten im Umgang mit den Novitäten) Brian Ferneyhoughs „Inconjunctions“, in denen die Komplexität des Satzes eine eigene flirrende Oberfläche schafft, die besonders im Mittelteil, der im extremsten Piano gehalten ist, einen luxurierenden Glanz annimmt. Beglückend.

Ansonsten durfte gelacht werden: bei der Perfomance „The total Mountain“ von Jennifer Walshe mit Betroffenheits-Beitönen, gelöst beim Eröffnungsabend und dem Abschlusskonzert. Absolute Musik heißt die Chimäre der Puristen, und dass sie in Lumpen gehüllt daher kommt, zeigte sich nicht besser als in diesen Tagen: Aktion, Text, das Visuelle sind das Salz in der (dünnen) Suppe. Manos Tsangaris’ Orchesterstück „Schwindel der Wirklichkeit“ narrte die Hörer am Radio und in der Baarsporthalle. Zu überlangen SWR-Nachrichten mit immer absurder werdenden Meldungen (Straßenunterführungen für Kröten, irgendwas mit Mappus) gesellen sich erste Kratzgeräusche der Streicher, und bald ist kein Halten mehr auf dem Podium.

Ein herabstürzender Flügel

Jux und Gaudi ebenso zum Festivalkehraus mit Ondrej Adámeks „Körper und Seele“, bei dem neben Chor und Orchester eine sogenannte Air-Machine zum Einsatz kam, die, Lob sei des Gartenfreundes Gardena-Kupplung, Küchenhandschuhe, Präservative und ein Gummischwein klingend aufblies und erschlaffen ließ. Komplexer-ausgeklügelter Simon Steen-Andersens „Piano Concerto“, bei dem als konstitutives Videoelement ein herabstürzender Flügel in den Dialog mit dem Pianisten trat, der wiederum mit sich selbst in einem zweiten Video konzertierte. Ein (etwas zu langer) Wettstreit gesunder mit zersplitterten Klaviertönen zum Crash-Ballett des Flügels. Dafür gab es den Orchesterpreis.

Ganz still dagegen ging es bei der Ausstellung in der Alten Hofbibliothek zu, die das Festival-Motto „und“ ausfaltete. Sie ermöglichte die zum Teil erstmalige Begegnung mit den aufgeführten Komponisten als bildenden Künstlern: seriös in den Fotografien von Pascal Dusapin, skurril-witzig in den Collagen von Jennifer Walshe oder grafisch-schillernd in den Moiré-Tuschen von Chiyoko Szlavnics.