Cornelia Reichhelm erzählt in ihrem Buch “Doping-Kinder des Kalten Krieges. Vom Staat geliebt – vom Staat missbraucht“ von der staatlich verordneten körperlichen und seelischen Zerstörung in der DDR, die ihr selbst widerfahren ist.

Stuttgart - Das Gespräch geht schon über eine Stunde, dann bricht Cornelia Reichhelm in Tränen aus. Ihre Stimme stockt, sie sackt in sich zusammen. Reichhelm trägt eine Halskrause und ein Stützkorsett für die gesamte Wirbelsäule. Die 51-Jährige war zu DDR-Zeiten Ruderin, Leistungskader, und damit mitten drin im Staatsdoping der DDR. Reichhelms Gesundheit ist ruiniert, ihr Leben geprägt von schweren Dopingschäden: neben der kaputten Wirbelsäule hat sie eine verdickte Herzwand, eine Herzmuskelentzündung, Blasen-, Venen, Nierenbecken- und Magenschleimhautentzündungen. Spuren der anabolen Steroide und eines Hochstleistungstrainings, das durch die Zugabe von Pillen und Spritzen immer weiter gesteigert worden war. Die seelische Zerstörung liegt wie ein Schatten über ihrem Leben.

 

Reichhelm ist wütend, enttäuscht, verloren. „Ich war für die doch nur ein Versuchskaninchen, und gar nicht für Medaillen und Erfolge vorgesehen“, sagt die gezeichnete Sportlerin verbittert, nachdem sie ihre Akten eingesehen hat. 2003 liest sie erstmals in ihrer „gynäkologischen Akte“ aus dem Archiv des SC Dynamo Berlin. Drei Blätter, die es in sich haben. Sie wird darin mit einem unfassbaren Ausmaß an Dopingvergehen an ihrem Körper konfrontiert.

Schokolade mit leistungssteigernder Wirkung

Als Kind mit 13 wurde ihr die Pille verabreicht, nicht zur Verhütung, sondern wegen der anabolen Wirkung. „Das war der Schlüssel zum Doping“, bezeichnet sie diese Form des Kindesmissbrauchs. Mit 16 erhielt sie angebliche Vitamingetränke („Die kriegen nur die Besten“), deren leistungssteigernde Wirkung nicht ausblieb. Es waren Dopingmittel. Mit 18 sollte sie der Anabolikaeinnahme bewusst zustimmen. Mit 19 war ihre Ruderkarriere beendet.

Cornelia Reichhelm war eine von über 10 000 gedopten DDR-Sportlerinnen und -Sportlern. „Wir hießen Diplomaten im blauen Trainingsanzug“, so zitiert sie die fast zynische Selbsteinschätzung. „Doping gibt es nur im Westen, hatten wir immer gedacht“, sagt sie und beschreibt das Zerrbild im Osten. Bereits mit 17 hatte Reichhelm Bandscheibenvorfälle, die man ihr verschwieg. Dafür erhielt sie Spritzen gegen die Muskelverspannungen, zahlreiche Operationen gegen Krampfadern. „Viele Trainingseinheiten waren nur noch der Horror“, sagt sie über ihre verlorene Jugend. Mit 18 verabreichte man ihr täglich eine Tafel Schokolade („Du musst Gewicht zunehmen“), deren leistungssteigernde Wirkung sie deutlich spürte. Sie nimmt deshalb an, dass sie auch auf diesem Weg gedopt wurde, denn die Süßwarenfabrik Görlitz versetzte unter Stasi-Anleitung Süßigkeiten mit Dopingmitteln.

Obwohl sich Cornelia Reichhelm zweimal für Junioren-Weltmeisterschaften qualifiziert hatte, durfte sie nie zu diesen Meisterschaften fahren. 1981 bei der Ausscheidung für Sofia war sie als Dritte der DDR-Meisterschaften im Zweier ohne Steuermann eigentlich qualifiziert. „Du fährst nicht mit“, hieß die lapidare Aussage im Ziel. Noch ehe die Tränen getrocknet waren, bevor sie gleich wieder an den Tropf gehängt wurde, war ihr klar: Da ist was faul, das mache ich nicht länger mit.

Cornelia Reichhelms Sohn kam mit Klumpfuß zur Welt

Dem Karriereende folgte bis heute das Bemühen um Aufklärung der eigenen Dopinggeschichte, der Versuch, Vertuschtes aufzudecken und eine Anerkennung als Dopingopfer zu erreichen. Aus dem verlorenen Dopingkampf ist eine Odyssee durch Gerichte und Institutionen geworden. Aus dem Doping-Opfer-Hilfegesetz als Folge der Berliner Prozesse gegen DDR-Sportführer Manfred Ewald und Sportmediziner Manfred Höppner erhielt Reichhelm eine einmalige Entschädigung von 10 000 Euro. 2006 gab es vom Dopingmittelproduzenten Jenapharm und vom DOSB 9000 Euro.

Cornelia Reichhelm arbeitete nach der Wende selbstständig als Designerin und Künstlerin, seit 2000 ist sie als Folge des Kinderdopings erwerbsunfähig. Sie lebt unter dem Sozialhilfesatz. Zuletzt hat sie eine Lebensversicherung, die fürs Alter vorgesehen war, vorzeitig aufgekündigt. „Bleibende Schäden verlangen bleibende Hilfe“, sagt Ines Geipel, die Vorsitzende des Doping-Opfer-Hilfe-Vereins in Berlin.

Trainer, Mediziner, Verbandsfunktionäre und die Stasi bildeten das Dopingnetz, in dem penibel gearbeitet wurde. Heute erfahren die Dopingopfer Verharmlosung und Verleumdung. „Ich war mit Leib und Seele Sportlerin“, erinnert sich die Ruderin Cornelia Reichhelm an ihre einstigen Ideale. Übrig geblieben sind davon nur noch seelische Ohnmacht und körperliche Entfremdung. 1985 brachte Reichhelm einen Sohn zur Welt, mit einem Klumpfuß. Ein Dopingopfer der zweiten Generation.

Das Buch zur Geschichte Cornelia Reichhelm: Doping-Kinder des Kalten Krieges. Vom Staat geliebt – vom Staat missbraucht. LIT-Verlag.