Winfried Kretschmann und Thomas Strobl sind die Chefs von Grün-Schwarz in Baden-Württemberg. Nun drängen sie gemeinsam auf einen Erfolg der Jamaika-Sondierungen in Berlin – und sorgen sich vor einem Scheitern.

Stuttgart - Es ist ein ungewöhnlicher Auftritt mit hoher Symbolkraft: in einem gemeinsamen Interview mit unserer Zeitung setzen sich die beiden Chefs der grün-schwarzen Koalition in Baden-Württemberg, Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Innenminister Thomas Strobl, für einen Erfolg der Jamaika-Sondierungen in Berlin ein.

 
Herr Kretschmann, Herr Strobl, Jamaika ist für alle Beteiligten ein Novum. Als Sie beide vor eineinhalb Jahren die grün-schwarze Koalition in Stuttgart verhandelten, war das auch eine Premiere. Was sollten die Sondierer einer schwarz-gelb-grünen Koalition in Berlin von Ihnen lernen?
Kretschmann: Die wichtigste Lehre lautet: Man kann sich auch finden, wenn man sich nicht gesucht hat. Die Wähler haben uns mit der Bundestagswahl eine komplizierte Situation beschert. Nachdem sich die SPD der Verantwortung entzogen hat, müssen nun Union, FDP und Grüne damit fertig werden – ob es uns passt oder nicht. Das Land muss schließlich regiert werden.
Strobl:Wir waren 2016 auch in Baden-Württemberg in einer sehr schwierigen Situation. Viele, auch in der CDU, haben gezweifelt, ob Grün und Schwarz überhaupt zusammengeht. Am Ende zählt, dass wir in allererster Linie nicht eine Verantwortung für die Parteien oder uns selbst haben, sondern für das Land. Und schließlich ist es gelungen: Baden-Württemberg hat eine stabile, verlässliche Landesregierung.
Und was haben Sie aus Ihren Koalitionsverhandlungen gelernt?
Strobl:Dass dann die Stunde der Demokraten gekommen ist und nicht der Ideologen.
Kretschmann In solchen Situationen können einem nur Kompromisse helfen. Auch wenn sich Parteien im Wahlkampf kräftig beharken, haben sie immer auch Gemeinsames. Danach muss man suchen. Bei uns war es etwa die Digitalisierung, die wir engagiert angehen.
Strobl: Helmut Schmidt hat mal gesagt: Wer den Kompromiss nicht versteht, der versteht die Demokratie nicht. Das heißt freilich nicht, faule Kompromisse zu machen, denn das wäre Stillstand. Es geht darum, zu koalieren, nicht zu fusionieren. Wir sind bei den Koalitionsverhandlungen in Baden-Württemberg sehr ins Detail gegangen, haben vieles durchgespielt – wir haben uns die Zeit genommen, auch um Themen zu ringen. Das ist jetzt das tragende Fundament dieser Regierung.
Kretschmann: Natürlich gibt es auch hinterher Konflikte, man kann ja nicht alles im Koalitionsvertrag regeln. Aber man muss dem anderen in dessen Kernbereichen eine gewisse Beinfreiheit lassen. Man muss gönnen können.
Der Koalitionsstreit um ein Tempolimit auf der A81 hat allerdings gezeigt, dass auch bei Grün-Schwarz die Nerven ziemlich schnell blank gescheuert sind und Koalitionspartner öffentlich aufeinander losgehen.
Strobl: Wohl dem Land, das solche Probleme hat...
Kretschmann: ...und sich über solche Dinge streitet.
Warum tun sich die Jamaika-Sondierer auf so vielen Gebieten so schwer, zueinander zu kommen?
Kretschmann: Es ist eben kompliziert. Es sind vier unterschiedliche Parteien und nicht zwei, die Agenda auf Bundesebene ist viel breiter als im Land. Da muss man sich erst mal abtasten. Außerdem ist mit der FDP eine Partei dabei, die vier Jahre von der Bildfläche verschwunden war. Dadurch fehlt einfach der ständige Kontakt und Austausch mit ihr.
Strobl: Ich war vor zwei Jahren zum Tauchen auf Jamaika. Es war wirklich eine weite Reise dorthin. Aber wenn man einmal da ist, ist es wunderschön.
Wenn man die Sprüche mancher Jamaika-Unterhändler hört, hat man allerdings nicht das Gefühl, dass ernsthaft sondiert wird – sondern Argumente vorbereitet werden, um nach einem Scheitern möglichst ungeschoren in Neuwahlen gehen zu können.
Kretschmann: Es gibt immer Brückenbauer und Grabenbeleuchter. Aber das Grabenbeleuchten nimmt gerade ab. Wenn wir koalieren wollen, braucht es Vertrauen. Koalitionen halten nicht ohne Vertrauensbasis der führenden Personen. Es passieren später immer Dinge, die man nicht vorhergesehen hat. Die kann man nur mit Vertrauen gemeinsam lösen.
Strobl: An der ein oder anderen Stelle wünschte ich mir, dass das Mitteilungsbedürfnis bei dem ein oder anderen nicht ganz so ausgeprägt ist.
Wie viel Vertrauen setzen Sie denn in FDP-Chef Christian Lindner? Der spricht das Thema „Neuwahl“ offensiv an nach dem Motto: Die Liberalen müssten sich davor nicht fürchten.
Kretschmann: Es geht hier doch nicht um kleinliche Parteitaktik. Der Preis von Neuwahlen ist so hoch, dass ich nur abraten kann. Wenn in Deutschland keine Regierung zustande kommt und neu gewählt werden muss – das dauert ja mindestens bis zum nächsten Sommer, womöglich noch länger – trägt das eine enorme Instabilität nach Europa. Und das in der Situation, in der die Union ohnehin schon fragil ist – denken wir nur an den Brexit oder die Situation in Spanien, Polen, Österreich. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron braucht ja auch irgendwann einmal einen Gesprächspartner, damit seine Agenda in Gang kommt. Auch die innenpolitischen Folgen von Neuwahlen sind unkalkulierbar. Davon würden sicher nicht die Parteien profitieren, die jetzt am Verhandlungstisch sitzen.
Strobl: Wir können uns nicht ein halbes Jahr ins Abseits stellen. Eine geschäftsführende Bundesregierung ist keine optimale Interessenvertretung für deutsche Belange. Wir brauchen auch weiterhin eine Bundesregierung mit einer starken Stimme in Europa und international. Nicht zuletzt deshalb ist es unsere staatspolitische Verantwortung, zügig eine tragfähige Regierung zu bilden. Nichts würde besser! Außerdem kann man die Leute ja nicht so lange wählen lassen, bis es passt.
Zumindest in der CSU scheint der Einigungswille noch nicht stark ausgeprägt zu sein. Als sich Grünen-Chef Cem Özdemir bereit erklärte, 2030 nicht mehr als festes Enddatum für den Verbrennungsmotor zu fordern, antwortete ihm der CSU-Mann Alexander Dobrindt „Wenn man Schwachsinnstermine abräumt, dann ist das ja noch kein Kompromiss.“
Kretschmann: Jeder weiß, dass ich bei diesem Thema nicht einer Meinung mit meiner Partei bin. Der Grünen-Parteitag hat die Forderung nach einem festen Ausstiegstermin aber ins Wahlprogramm aufgenommen. Wenn unsere Verhandlungsführer nun diesen Punkt zurücknehmen, ist das für die Grünen ein gewaltiger Schritt. Es ist dann nicht förderlich, abfällig über eine solche Kompromissbereitschaft zu reden.
Strobl: Wo Herr Kretschmann Recht hatte, hat er Recht. Die Grünen folgen ihm ja nicht immer, aber erfreulicherweise nun in diesem Punkt. Die Woche vorher haben wir noch genau über diese Frage ergebnislos bis in die frühen Morgenstunden verhandelt. Deswegen ist es gut, dass das vom Tisch ist – es beschwert die Verhandlungen nicht mehr.
Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer wird von seinen eigenen Leuten als Führungsfigur in Frage gestellt. Macht es das noch schwerer, mit den Christsozialen Kompromisse zu schließen?
Strobl: Die CSU regelt ihre Führungsfragen selbst. Ich selber stimme mich mit den Kollegen der CSU in allen Themen engstens ab …
Kretschmann Ich kann mich über das Verhalten der CSU nicht beklagen. Sie verhandelt hart, aber konstruktiv.
Welche Rolle spielt Frau Merkel bisher? Nach außen wirkt sie wie eine über den Dingen schwebende Moderatorin.
Strobl: Sie agiert klug und gut. Als Bundeskanzlerin und Vorsitzende der größten Partei hat sie natürlich eine Doppelrolle. Sie muss gleichzeitig die Verhandlungen moderieren und die Interessen der CDU einbringen. Das erste macht sie sehr gut und für den zweiten Teil gibt es ja noch ein paar andere, die mitmachen. Solche Verhandlungen haben verschiedene Phasen – die Rolle von Frau Merkel wird variieren.
Kretschmann: Frau Merkel ist ja die Einzige am Tisch, die gesetzt ist. Niemand bestreitet, dass sie Bundeskanzlerin wird, sollte die Koalition zustande kommen. Also kommt ihr eine besondere Rolle zu, sie muss die Enden zusammenbinden. Das macht sie souverän, besonnen und mit der Coolness, die wir von ihr kennen.
Gibt es für Sie beide als grün-schwarzem Tandem eine Sonderrolle in den Verhandlungen?
Kretschmann: Die kommt, jetzt, wo es in die entscheidende Phase geht. Es hilft immer, wenn Leute mit verhandeln, die persönlich überhaupt keine Eisen im Feuer haben. Und für mich gilt: Ich will in Berlin nichts werden.
Gilt das auch für Sie, Herr Strobl?
Strobl: Ohne Einschränkungen: Ja.
Herr Kretschmann, glauben Sie ernsthaft, mit Union und FDP noch die Klimaziele 2020 erreichen zu können?
Kretschmann: Klar ist, dass wir Grünen ohne ein Festhalten an den bestehenden Klimazielen nicht nach Hause kommen dürfen. Es ist ja auch objektiv und sachlich erforderlich: Klimaschutz ist die Menschheitsfrage dieses Jahrhunderts. Aber ich bin überzeugt, dass wir da eine Verständigung hinbekommen. Jeder weiß doch, dass wir in Deutschland die für 2020 angepeilte Verringerung des CO2-Ausstoßes nur noch schaffen, wenn wir die Kohleverstromung schnell verringern. Insofern gehört das zu den ganz harten grünen Punkten.
Strobl: Natürlich ist das ein sehr schwieriges Terrain, aber es ist für die zu bildende Koalition auch eine riesige Chance. Das gilt für alle großen Transformationsprozesse, in denen wir gerade stecken – von Energie über Mobilität bis zur Digitalisierung. Wenn es uns gelingt, hier die richtigen Weichen zu stellen, können wir Großes und Wichtiges für unser Land erreichen. Hier geht es überall um Hochtechnologie. Das zeichnet uns aus. Und das müssen wir auch weiterhin zu unserem Markenzeichen machen.
Aber ist die CDU bereit, die 20 schmutzigsten Kohlekraftwerke zügig abzuschalten?
Strobl: Wenn wir uns in den großen Zielen einig sind, werden wir uns auch über die notwendigen Maßnahmen und Zeitpläne verständigen.
Kretschmann: Wenn es um Energie geht, muss man neben dem Klimaschutz immer auch die Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Standortfragen berücksichtigen. Auch die Grünen würden nie einen Kohleausstieg machen, der unsere Versorgung mit Energie gefährdet. Das wäre doch völliger Wahnsinn.
Herr Strobl, für die CSU gilt in Sachen Zuwanderung der Kompromiss, den sie nach vielen Mühen unionsintern gefunden haben, als unantastbar. Ist damit nicht ein Scheitern an dieser Stelle programmiert?
Strobl: Die Union hat hier einen klaren Standpunkt. Aber es wäre ein bisschen merkwürdig, wenn man sagt: wir gehen in Verhandlungen – aber wir verhandeln nicht. Baden-Württemberg ist doch ein gutes Beispiel, dass auch hier tragfähige Lösungen möglich sind. Das bedeutet, ganz kurz gefasst: Asylrecht und Genfer Flüchtlingskonvention gelten. Wer vor Gewalt, Vergewaltigung davonlaufen muss, um Leib und Leben fürchten muss, dem geben wir Schutz. Und die anderen führen wir konsequent in ihre Heimatländer zurück. Auch beim strittigen Thema „Sichere Herkunftsländer“ haben wir in Stuttgart für Nordafrika eine gemeinsame Linie entwickelt. Das alles zeigt doch: Es geht!
Herr Kretschmann, könnten die Grünen einen Koalitionsvertrag unterschreiben, in dem eine Höchstgrenze von 200000 Flüchtlingen pro Jahr auftaucht?
Kretschmann: Obergrenzen stimmen wir nicht zu…
Strobl: Das Wort Obergrenze taucht in der gemeinsamen Erklärung von CDU und CSU ja gar nicht auf.
Kretschmann: Trotzdem liegen wir hier weit auseinander.
Strobl: Aber wir sollten jetzt an diesem Tisch keine Sondierungsverhandlungen führen, so reizvoll das für die Leser wäre.
Kretschmann: Die wirklich wichtigen Dinge werden ohnehin erst in der Schlussphase entschieden.
Strobl: So ist es.
Werden Sie die Jamaika-Koalition vor Weihnachten zustande zu bringen?
Strobl: Vielleicht schaffen wir es nicht bis zum ersten Advent. Aber wir werden schon noch in der Vorweihnachtszeit den Advent besingen können.