Die große Koalition regelt die doppelte Staatsbürgerschaft neu. Für Kinder ausländischer Eltern, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, fällt die umstrittene Optionspflicht. Das wurde auch Zeit, findet Jeannette Villachica. Allerdings ist die Tochter eines Peruaners eher froh, ohne Doppelpass aufgewachsen zu sein.

Stuttgart - Es gibt Momente, in denen das eigene Leben vor dem inneren Auge vorbeizieht und man erkennt, wie viel von dem, was man als existenziell für das eigene Dasein, die eigene Identität betrachtet hat, nur dem Zufall geschuldet ist. Bis vor ein paar Wochen hatte ich mir nie Gedanken darüber gemacht, wie mein Leben in Deutschland statt mit einer deutschen mit einer doppelten oder der alleinigen peruanischen Staatsbürgerschaft ausgesehen hätte.

 

Ich bin 1970 in Deutschland geboren und hier mit einer deutschen Mutter und einem peruanischen Vater aufgewachsen. Als ich sechs Jahre alt war, erhielt mein Vater seinen Einbürgerungsbescheid, seinen peruanischen Pass musste er daraufhin abgeben. Trotzdem blieb er für Kollegen, Freunde und auch für uns Kinder weiterhin mehr Peruaner als Deutscher. Und ich als seine Tochter, die seinen Namen trägt, war – jedes Kind ausländischer Eltern kennt das – permanent mit seiner Herkunft, die nicht meine war, konfrontiert.

„Peru? – Liegt das in Spanien?“

Als Kind wusste ich erst gar nicht, was die Leute von mir wollten, wenn sie mich wegen meines Nachnamens fragten: „Woher kommst du?“ Für mich war immer klar, dass ich selbstverständlich nach Deutschland gehörte wie meine Freundinnen. Ich wollte sein wie alle anderen Kinder in der Grundschule, wo es außer mir nur noch einen Sohn eines Italieners gab. Im Gymnasium kamen einige Mitschüler aus Jugoslawien, die Tochter eines Griechen und ein paar Rumäniendeutsche im weiteren Umkreis hinzu, ich blieb aber die Exotin. Heute kann man sich das nicht mehr vorstellen, aber Mitte der siebziger Jahre wussten viele absolut nichts über Peru. „Liegt das in Spanien?“, bekamen meine Eltern ab und zu auch von Akademikern zu hören. Heute erzählt mir jede(r) Dritte, dass er oder sie schon einmal durch Peru gereist ist oder gern dorthin fahren möchte; manche wissen mehr über das Land als ich. Auch die Einstellung gegenüber meiner peruanischen Seite hat sich gewandelt. Früher spürte ich Distanz, Abwehr, vorsichtige Neugier oder freundliches Desinteresse; heute erwarten die Menschen von mir, dass ich mich mit diesem Land identifiziere, das ich nur von ein paar mehrwöchigen Aufenthalten her kenne. Kritik an den Lebensumständen in Peru möchten sie von mir nicht hören, dass ich mir nie vorstellen konnte, dort zu leben, auch nicht.

Vor diesem Hintergrund erlitt ich einen leichten Schock, als meine Mutter vor ein paar Wochen erwähnte, dass ich bis zu meinem fünften oder sechsten Lebensjahr Peruanerin war. Bei meiner Geburt 1970 besaß mein Vater noch die peruanische Staatsbürgerschaft, und laut damaliger Gesetzeslage erbten Kinder aus Mischehen – grässliches Wort – die Nationalität des Vaters, auch wenn sie in Deutschland geboren wurden. Diese Neuigkeit, die eigentlich keine war, denn ich hatte diese Information nur tief in mir vergraben, wühlte einiges in mir auf. Was wäre gewesen, wenn mein Vater nicht 1977 die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen hätte? Wäre ich dann heute noch Peruanerin und wie wäre mein Leben als solche verlaufen?

Als ich das nächste Mal bei meinen Eltern war, sah ich die Dokumente aus meiner Kindheit durch. Laut einem Schreiben des peruanischen Konsulats von 1973 wurde ich nicht ins peruanische Geburtenregister eingetragen und hätte somit als Tochter eines Peruaners zwar das Anrecht auf die peruanische Staatsangehörigkeit, würde sie aber erst bei der „Rückkehr“ nach Peru erwerben. Das Konsulat empfahl den deutschen Behörden, mir einen Kinderausweis auszustellen. Also erhielt ich 1973 einen Kinderausweis mit dem Vermerk „Staatsangehörigkeit deutsch“. Als ich meine Eltern darauf ansprach, meinten sie, damals hätte sich niemand richtig mit unserem Fall ausgekannt. Meine Verwirrung nahm noch zu, als ich eine „Urkunde über den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Erklärung“ auf meinen Namen fand, die 1975 ausgestellt wurde, also zu einem Zeitpunkt, als ich laut Kinderausweis bereits zwei Jahre lang Deutsche war.

Für manche eine gute Sache, für andere nicht

In den letzten Jahrzehnten hat sich das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht stark verändert. Kinder eines deutschen und eines ausländischen Elternteils, die seit dem 1. Januar 1975 in Deutschland geboren wurden, haben das Recht auf eine lebenslange doppelte Staatsbürgerschaft. Grundsätzlich ist es natürlich zu begrüßen, wenn sich diese Deutschen in beiden Ländern als vollwertige Staatsbürger fühlen dürfen. Allerdings bin ich nicht sicher, ob ich mir gewünscht hätte, mit zwei Staatsangehörigkeiten aufzuwachsen.

Ein Doppelpass ist die rechtliche Entsprechung der gleichwertigen Zugehörigkeit zu zwei Ländern. Für Kinder und Jugendliche, die sich mit dem Heimatland eines oder beider ausländischer Elternteile identifizieren, ist die doppelte Staatsangehörigkeit eine gute Sache, weil er ihrem Selbstbild entspricht. Mich selbst hätte ein Doppelpass als Kind und Jugendliche vermutlich noch stärker in meinem Selbstbild verunsichert, als ich es durch meinen fremd klingenden Namen und den Exotenstatus sowieso schon war. Alles, was ich liebte, war in Deutschland, wenn auch nicht unbedingt deutsch. Meine Eltern versuchten, uns Kindern auch die Herkunftskultur meines Vaters nahezubringen, aber mein erster Besuch in Peru 1981 verstörte mich sehr: die Armut in den Slums, das Prassen und die Arroganz der Oberschicht, Militär überall – der Krieg der Armee gegen die Guerillaorganisation Leuchtender Pfad war in vollem Gang; andererseits die überwältigende Natur und meine große Familie, die uns herzlich aufnahm, die mir jedoch ganz anders erschien als wir, auch anders als mein Vater, und die doch ein Teil von mir sein sollte. Alles dort war mir fremd. Undenkbar, dass ich in dieses Land, zu diesem Land gehören könnte.

Die Welt ist zusammengewachsen

Heute wäre der Kulturschock vermutlich viel kleiner. Die Welt ist zusammengewachsen, und Peru geht es – im Gegensatz zu den damals politisch und wirtschaftlich extrem schwierigen Zeiten – sehr gut. Aber wie hätte ich es empfunden, wenn ich auf dem Papier zu gleichen Teilen peruanisch wie deutsch gewesen wäre und mein Vater nur noch Deutscher?

Dass er, wie die meisten Nicht-EU-Bürger heute noch, seine erste Staatsbürgerschaft aufgeben musste, um die deutsche zu erlangen, empfinde ich als unzumutbare Härte. Genauso wie die Optionspflicht, die wochenlang von der großen Koalition diskutiert wurde. Aktuell erhalten in Deutschland geborene Kinder zweier ausländischer Elternteile von Geburt an die doppelte Staatsbürgerschaft, müssen sich jedoch spätestens mit 23 Jahren für eine der beiden Staatsangehörigkeiten entscheiden. Der Koalitionsvertrag sieht vor, dass sie dauerhaft zwei Pässe besitzen dürfen, wenn sie in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Wie genau „aufgewachsen“ definiert werden soll, darauf haben CDU/CSU und SPD diese Woche geeinigt.

Wie soll man einen Teil von sich aufgeben können?

Ich frage mich: Warum soll ein Kind mit zwei Staatsbürgerschaften leben dürfen und ein Erwachsener, der erst allmählich begreifen kann, was ihm die jeweilige Staatsbürgerschaft bedeutet oder bedeuten kann, nicht? Wie soll man einen Teil von sich, mit dem man 18 oder 23 Jahre gelebt hat, aufgeben können? Ausgerechnet in einem Alter, in dem man die Weichen für seine Zukunft stellt und noch nicht absehen kann, wohin einen die eigenen beruflichen und privaten Pläne führen? Der deutsche Staat zwingt junge Menschen, eine wichtige Verbindung zu einem Teil von sich abzuschneiden. Ich kann mir vorstellen, wie weh das tun kann, wie sehr es auch die Wut auf diesen Staat schüren kann. Warum darf ich plötzlich nicht mehr das sein, was ich mein ganzes bisheriges Leben auf dem Papier war, Deutscher und Türke, Deutsche und Peruanerin?

Und später? Wenn man in das Land einreisen oder gar dort leben möchte, ist man rechtlich Personen gleichgestellt, die keinerlei Beziehung zu diesem Land haben. Mein Vater musste, um als Rentner mehr als drei Monate hintereinander in Peru bleiben zu können, eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen. Damit er sie nicht verliert, muss er bestimmte Richtlinien einhalten. Die Bürokratie ist auch ein Grund, warum viele Nicht-EU-Bürger zögern, ihre Staatsangehörigkeit zu Gunsten der deutschen aufzugeben.

Wie wäre mein Leben mit der doppelten Staatsbürgerschaft verlaufen?

Wie wäre mein Leben mit der doppelten Staatsbürgerschaft verlaufen? Sicher nicht sehr viel anders, schon weil die politische und wirtschaftliche Lage in Peru bis in die späten neunziger Jahre nicht danach war, dass ich öfter hätte hinfliegen mögen. Später hätte ich als peruanische Staatsbürgerin natürlich länger als eine Touristin im Land bleiben und mich leicht dort niederlassen können. Ich hätte dort Steuern zahlen müssen, wählen können und den diplomatischen Schutz des peruanischen Staates genossen. Vorausgesetzt, es hätte mich nicht mit meinen Rechten und Pflichten als deutsche Staatsbürgerin in Konflikt gebracht – der Grund, warum Mehrstaatigkeit in Deutschland laut Staatsbürgerschaftsgesetz immer noch grundsätzlich vermieden werden soll. Allerdings gibt es auch heute schon zahlreiche Regelungen mit diversen Staaten, um derartige Konflikte zu vermeiden.

Wichtiger für mein Standing in der Gesellschaft wäre die doppelte Staatsbürgerschaft gewesen, wenn wir nach Peru gezogen wären. Meine Eltern hatten das vor, als ich drei Jahre alt war. Ihr Plan scheiterte daran, dass mein Vater aufgrund seiner damaligen peruanischen Staatsbürgerschaft von dem britischen Unternehmen, bei dem er anfangen sollte, wesentlich weniger Gehalt angeboten bekam als die britischen Ingenieure, die dort arbeiteten. Als halbe Europäerin in einem Land, das damals noch viel mehr von Rassismus durchdrungen war als heute, hätte ich vermutlich allein wegen meiner Hautfarbe eine elitäre Stellung in der Gesellschaft gehabt. Und ich bin mir sicher, dass mir die Bezeichnung „Staatsbürgerschaft deutsch“ auf diversen Dokumenten bei der Jobsuche, bei Gehaltsverhandlungen, bei der Wohnungssuche etc. geholfen hätte.

In Peru hätte ich auch meinen vollen Namen verwendet: Jeannette Villachica Dautermann. Nach dem peruanischen Namensrecht wird der Mädchenname der Mutter an den ersten Nachnamen des Vaters angehängt. In Deutschland verwende ich aus praktischen Gründen – und weil der Doppelname generell für einen Doppelnamen nach deutschem Recht gehalten wird – meist nur den ersten Namen.

In jedem Fall hätte ich mich mit der doppelten Staatsbürgerschaft wohl noch mehr mit meiner Identität auseinandergesetzt: Was an mir ist peruanisch, was deutsch? Wer will und wer kann ich sein? Wo will ich leben? Denn auch wenn man sich von sich aus nicht als Ausländer oder Ausländerin fühlt, die Zuschreibungen von außen färben auf das Selbstbild ab. Vielleicht wäre Peru für mich als Jugendliche sogar zu einem Sehnsuchtsland geworden, in das ich mich gedanklich hätte flüchten können, wenn mich in meinem deutschen Leben wieder einmal alles nervte. Und wahrscheinlich hätte ich als jemand, der auf dem Papier genauso peruanisch wie deutsch war, nicht so sehr darum gekämpft, als „ganz normale“ Deutsche anerkannt zu werden. Als junger Mensch reagierte ich empfindlich, manchmal aggressiv, wenn ich auf meine peruanische Seite angesprochen wurde. Ich empfand das als Ausgeschlossenwerden, auch wenn es nicht so gemeint war.

Mehr noch als für Kinder und Jugendliche wünsche ich mir für Erwachsene jeder Herkunft – und egal ob hier geboren oder eingewandert – die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft. Ich glaube, als Erwachsener kann man viel besser erkennen, dass Identität nicht eindimensional, sondern vielschichtig und wandelbar ist und dass sie immer auch Einflüssen ausgesetzt ist, die – wie die Staatsbürgerschaft – nicht selten dem Zufall unterliegen: Wo wurde man geboren? Zu welchem Staat gehörte der Ort zum Zeitpunkt der Geburt? Und wie lauteten die Bestimmungen zur Staatsbürgerschaft dort?

Meine Mutter kam 1948 im Saarland zur Welt, das nach dem Krieg zum französischen Protektorat mit eigener Regierung und Verfassung wurde. Kurz zuvor war erstmals eine saarländische Staatsangehörigkeit eingeführt worden, damit wurde der saarländischen Bevölkerung die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen. Wer das nicht wollte, konnte auf die saarländische Staatsbürgerschaft verzichten und blieb Deutscher, galt aber im Saarland als Ausländer. Nach einer Volksabstimmung wurde das Saarland am 1. Januar 1957 ein deutsches Bundesland, und die Saarländer, somit auch meine Mutter, erhielten die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Geschichte hätte auch ganz anders verlaufen können.

Wer bekommt den Doppelpass?

Mehrstaatigkeit:
Seit der letzten Reform des Staatsbürgerschaftsrechts unter Rot-Grün im Jahr 2000 galt: Kinder eines deutschen und ausländischen Elternteils und Kinder, deren beide Elternteile aus der EU (und einiger anderer Staaten) kommen, erhalten bei ihrer Geburt in Deutschland eine unbefristete doppelte Staatsbürgerschaft. Für Kinder, deren beide Eltern aus einem Nicht-EU-Land kommen, gilt zunächst das Gleiche, sie müssen sich jedoch bis zu ihrem 23. Geburtstag für eine der Staatsangehörigkeiten entscheiden.

Neuregelung: Im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD heißt es: „Für in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder ausländischer Eltern entfällt in Zukunft der Optionszwang und die Mehrstaatigkeit wird akzeptiert.“ Nach längeren koalitionsinternen Auseinandersetzungen haben sich Union und SPD am Donnerstag dieser Woche auf einen Gesetzentwurf zur doppelten Staatsbürgerschaft geeinigt. Die umstrittene Optionspflicht soll demnach für jene Kinder ausländischer Eltern wegfallen, die bis zu ihrem 21. Geburtstag mindestens acht Jahre in Deutschland gelebt oder sechs Jahre hier eine Schule besucht haben. Kinder aus Zuwandererfamilien können demnach künftig schon vor ihrem 21. Geburtstag selbst aktiv werden und die dauerhafte doppelte Staatsbürgerschaft beantragen. Geschieht dies nicht, prüfen die Behörden.

Zahlen: In Deutschland leben etwa 2,3 Millionen Bürger mit doppelter Staatsangehörigkeit. Im Jahr 2013 wurde bei rund 3300 Personen das Optionsverfahren abgeschlossen, 2014 bis 2017 sind rund 7000 jährlich betroffen.

Zur Person

Jeanette Villachica
lebt als Journalistin und Übersetzerin in Hamburg. Im September erschien ihr Buch „Und dann kam der Richtige – Frauen erzählen die Liebesgeschichte ihres Lebens“ (Herder).