Elisabeth Käsemann wurde 1977 von Schergen der argentinischen Militärdiktatur ermordet. Ihre Nichte Dorothee Weitbrecht kämpft seitdem für Gerechtigkeit: als Nebenklägerin im Prozess gegen den Junta-Chef und als Stiftungsgründerin.

Es ist ein langer Weg, den die Stuttgarterin Dorothee Weitbrecht gegangen ist, bis sie an jenem Abend im März 2015 die wenigen Schritte an das Rednerpult des Hospitalhofs macht. Den Anfang des Wegs markiert eine Postkarte ihrer Tante vom 7. März 1977, auf der steht: „Schließen wir einen Pakt. Du schreibst mir, und ich schreibe dir! Einverstanden?“ Doch dazu ist es nie gekommen.

 

Die Karte aus Buenos Aires ist die letzte Nachricht, die Dorothee Weitbrecht von ihrer Tante Elisabeth Käsemann, der Tochter des bekannten evangelischen Tübinger Theologen Ernst Käsemann, erhalten hat. Wenige Wochen später ist Elisabeth Käsemann tot. Die junge Frau, die sich in den Armenvierteln der argentinischen Hauptstadt engagierte, wurde von Schergen der diktatorisch regierenden Militärs entführt, gefoltert, ins berüchtigte Geheimlager El Vesubio verschleppt und schließlich in einem Haus in Monte Grande, einem Vorort von Buenos Aires, am 24. Mai 1977 hinterrücks erschossen.

„Die Ermordung der Schwester meines Vaters und meiner Patentante durch die argentinische Militärdiktatur hat mein Leben geprägt“, sagt Dorothee Weitbrecht an diesem Abend, an dem die nach ihrer Tante benannte Stiftung vorgestellt wird. Für Dorothee Weitbrecht und für die Familie, die in all den Jahren auch die Schattenseiten der öffentlichen Wahrnehmung kennengelernt haben, ist das ein Meilenstein. Über die Jahre hinweg ist aus persönlicher Betroffenheit zuerst ein Kampf um Gerechtigkeit vor Gericht, dann ein politisches und wissenschaftliches Engagement geworden.

Die Elisabeth-Käsemann-Stiftung hat sich zur Aufgabe gemacht, an staatliche Unterdrückung und Verfolgung zu erinnern und die Suche nach neuen Wegen der Erinnerung auf internationaler Basis zu unterstützen. „Wir wollen einen Beitrag dazu leisten, dass systematische staatliche Verfolgung und Mord nie wieder möglich werden“, sagt Dorothee Weitbrecht, die Gründerin und Vorsitzende.

Engagement für die Opfer

Wenn man heute mehr weiß über das Schicksal von Elisabeth Käsemann, wenn die verantwortlichen Militärs vor Gericht standen und vor einigen Jahren zu langen Gefängnisstrafen oder lebenslanger Haft verurteilt wurden, ist das vor allem dem Engagement von argentinischen und deutschen Opferorganisationen zu verdanken – und der sehr späten Unterstützung durch die Bundesregierung. Entscheidend war auch die Bereitschaft der Familie Käsemann, sich nach den traumatischen Erlebnissen in den 70er Jahren zur Jahrtausendwende noch einmal mit aller Kraft der politischen und juristischen Aufarbeitung zu widmen. Von Deutschland aus unterstützen sie die Arbeit der Opferorganisationen in Argentinien und traten in den Prozessen in Buenos Aires als Nebenkläger auf. „Es war für mich klar, dass trotz der Vorbehalte innerhalb der Familie, wieder dem Licht der Öffentlichkeit ausgesetzt zu sein, der letzte Versuch, meiner Tante Gerechtigkeit zu verschaffen, gewagt werden musste“, sagt Dorothee Weitbrecht. Dieses Wagnis habe sich gelohnt.

Es ist im studentenbewegten Jahr 1968, als die Tübinger Pfarrerstochter Elisabeth Käsemann nach Südamerika reist. Sie hilft in einem Sozialprojekt in Bolivien, später engagiert sich die Studentin, die auch mit dem Wortführer der Studentenbewegung, Rudi Dutschke, befreundet ist, in den Armenvierteln von Buenos Aires. Als sich 1976 das Militär an die Macht putscht, geraten die junge Deutsche und viele andere Helfer, die von einer gerechteren Gesellschaft träumen, sich für Arme engagieren und im Untergrund aktiv sind, in das Visier von Polizei und Geheimdiensten. Oppositionelle müssen um ihr Leben fürchten. Viele, auch Freunde von Elisabeth Käsemann, verlassen das Land. Dann – in der Nacht vom 8. auf den 9. März, einen Tag, nachdem sie die Postkarte an Dorothee Weitbrecht geschrieben hat, verschleppt man auch Elisabeth Käsemann. Sechs Wochen später wird die 30-Jährige mit 15 weiteren politischen Gefangenen durch Schüsse in den Nacken und den Rücken ermordet. Das Militär teilt mit, dass in einem Feuergefecht 16 Guerilleros erschossen worden seien. Das ist die übliche Lüge nach solchen Exekutionen.

Elisabeth Käsemann ist eines der mehr als 30 000 Opfer, die von der Junta ermordet wurden. Bei vielen ist das Verbleiben bis heute nicht geklärt – etwa das des deutsch-argentinischen Comicautors Héctor Oesterheld, dem derzeit eine Ausstellung im Stuttgarter Literaturhaus gewidmet ist. Oesterheld, dessen Familie zum Großteil ausgelöscht wurde, saß wie Elisabeth Käsemann im Folterlager El Vesubio.

Entsetzen in der Familie

„In meiner behüteten Kindheit und Jugend am Ende der siebziger Jahre in der Bundesrepublik erschien es mir unvorstellbar, dass Menschen andere Menschen mit höchster Grausamkeit foltern und ermorden“, erinnert sich Dorothee Weitbrecht. „Genau dies jedoch geschah aus heiterem Himmel einer mir nahestehenden Person.“ In der Familie herrschten Entsetzen, Sprach- und Hilflosigkeit. „Wir Kinder trauten uns nicht zu fragen, warum und wie das passieren konnte. Es musste jeder seine eigene Position zu diesem Ereignis finden“, sagt Dorothee Weitbrecht am Rednerpult. Und es ist mucksmäuschenstill im Saal.

Es waren bewegte Zeiten vor vier Jahrzehnten. Die Attentate und Entführungen der RAF, der deutsche Herbst – trotz internationaler Appelle für die Freilassung Käsemanns reagiert das Auswärtige Amt unter dem Außenminister Hans-Dietrich Genscher nicht oder zumindest nicht so vehement wie andere westliche Regierungen, denen es gelingt, inhaftierte Bürger, die in der Nähe linker Bewegungen stehen, freizubekommen. Doch Argentinien ist damals ein sehr wichtiger Wirtschaftspartner, und das offizielle Deutschland reagiert auf das Schicksal Elisabeth Käsemanns kaum.

Ein anderes Ereignis macht mehr Schlagzeilen: ein Freundschaftsspiel der deutschen Fußballnationalmannschaft ein Jahr vor der WM im diktatorisch regierten Argentinien. Damals, am 5. Juni 1977, wenige Tage nach Elisabeth Käsemanns Tod spielt die DFB-Auswahl in Buenos Aires. „Man kann sich durchaus die Frage stellen, ob Elisabeth Käsemann und weiteren Menschen ihr Schicksal erspart worden wäre, wenn deutsche Behörden- und Fußballvertreter einen Zusammenhang hergestellt hätten zwischen Sport und Menschenrechten“, sagt Ingrid Hönlinger, ehemalige Bundestagsabgeordnete der Grünen und Vorsitzende des Kuratoriums der Stiftung.

„Bis heute hat sich niemand entschuldigt“

Die frühere Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) wird an diesem Abend noch um einiges deutlicher. Sie spricht von „einem bewussten Wegsehen der damaligen Bundesregierung“ und hält ein klares Bekenntnis des Auswärtigen Amts, dass „die Politik der Nichtintervention damals falsch war“, für längst überfällig: „Mich hat die Gleichgültigkeit damals zutiefst verstört“, so Gmelin, „bis heute hat sich niemand entschuldigt.“

Die Hintergründe des Schicksals ihrer Tante dringen Dorothee Weitbrecht als Jugendliche ins Bewusstsein. Sie beschäftigt sich mit dem Foltern und Morden in Argentinien. „Ich wollte über das Studium der Geschichte eine Erklärung für flächendeckende Menschenrechtsverletzungen und Genozide finden“, sagt die 49-Jährige heute. Die nationalsozialistischen Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei in Polen werden das Thema ihrer wissenschaftlichen Abschlussarbeit. Allenfalls seien ihr Mechanismen für staatlichen Mord deutlich geworden: Das Grauenhafte aber, sagt Dorothee Weitbrecht, sei ihr bis heute unerklärlich: „Wie kann man ein liebevoller Familienvater und zugleich Massenmörder sein? Wie kann man Kindern über den Kopf streichen und sie einen Moment später töten?“ Diese Fragen führen zu ihrem Engagement für Menschenrechte. „Zu meinem Bedürfnis zu verstehen kam das Bedürfnis, etwas zu tun, damit solche Katastrophen nicht mehr passieren.“

Die Koalition gegen Straflosigkeit

Sie und ihre Familie setzten sich im Rahmen der „Koalition gegen Straflosigkeit“ dafür ein, dass deutsche Staatsanwälte Haftbefehle gegen Mitglieder der Militärjunta erließen – ein Präzedenzfall für die Strafverfolgung ausländischer Regierungsmitglieder durch die deutsche Justiz. Als dem Juntachef Jorge Videla und anderen in Argentinien der Prozess gemacht wird, treten die Bundesrepublik, aber auch Dorothee Weitbrecht und ihr Vater als Nebenkläger auf. Die Kontakte nach Argentinien, etwa zum Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel, der dem Kuratorium der Stiftung angehört, haben Dorothee Weitbrecht gezeigt, dass „Globalisierung nicht nur auf dem wirtschaftlichen Sektor funktioniert, sondern auch bei der Kooperation für Menschenrechte“. Um dies dauerhaft zu tun, habe sie die Stiftung gegründet.

Mittlerweile gibt es mit dem internationalen Strafgerichtshof und anderen Institutionen Einrichtungen, die Menschenrechtsverletzungen verfolgen – auch ein Resultat der juristischen Aufarbeitung in Argentinien. Dorothee Weitbrecht ist das nicht genug. Die Historikerin ist fest davon überzeugt, dass die Erinnerung an Unfreiheit, Unterdrückung, Folter und Mord die Gesellschaft in Krisenzeiten vor Verführung durch Demagogen schützt. „Kein Land ist davor bewahrt, unter bestimmten Bedingungen autokratische Systeme wieder zu akzeptieren, auch Deutschland nicht.“

Die Missachtung der Menschenrechte bis hin zu ihrem Verlust beginne schleichend, sagt sie. Was junge Leute von Elisabeth Käsemann lernen könnten, wurde Dorothee Weitbrecht einmal gefragt: „Empathie, Zivilcourage und die Fähigkeit, dicke Bretter zu bohren“, antwortete sie. Sie hat von ihrer Tante gelernt.