Nik Wallenda will die Niagarafälle überqueren. Der Grat zwischen Mut und Übermut bei dem Balanceakt in rund 70 Metern Höhe ist schmal.

Niagarafälle - Am liebsten wäre es Nik Wallenda, wenn es nebelig ist an dem Tag, an dem er auf dem Drahtseil die Niagarafälle überqueren wird. „Dann würde ich auf der einen Seite im Dunst verschwinden und auf der anderen Seite wieder auftauchen.“ Wie ein Taucher, der aus der Tiefe zurückkommt. Oder wie eine Fata Morgana. „Wie geil wäre das denn“, sagt er.

 

Wallenda hat einen Sinn für den dramatischen Effekt. Er ist Entertainer. Bei seinen Hochseilakten, mit denen er rund um die Welt tingelt, lässt er etwa gerne seine Mutter ein wenig am Seil rütteln, während er mit dem Fahrrad darüberfährt. „Pass auf, Mutter“, ruft er ihr dann zu und schwingt gefährlich hin und her, bevor er stabil zur anderen Seite weiterfährt. „Das erhöht ein wenig die Spannung für die Zuschauer.“

Dabei benötigt das, was der 32 Jahre alte Berufsartist in diesem September vorhat, gar keiner Effektverstärkung. Fast 600 Meter lang wird das Seil sein, über das er läuft, von der kanadischen Seite der Niagarafälle bis hinüber zur US-Seite. Rund 70 Meter unter ihm werden die Fälle ohrenbetäubend in die Tiefe donnern, der feuchte Dunst wird sich wie Seifenschaum auf den fünf Zentimeter breiten Draht legen. Bis zu 90 Stundenkilometer schnell können die Böen in den zirka 30 Minuten werden, die Wallenda brauchen wird, um von den USA nach Kanada zu schweben.

Wallenda übte auf den schlabberigsten Seilen

Und trotzdem lässt er es so klingen, als könne bei der Aktion nicht das Geringste schiefgehen. Wallenda trainiere jeden Tag, seit er ein kleiner Junge ist, sagt er. Er fühle sich auf dem Drahtseil wohler als auf festem Boden. Die extremsten Bedingungen habe er eingeübt, auf den schlabberigsten Seilen. Nichts wird ihn überraschen können am Tag X, sagt er. Und wenn es gar nicht anders geht, dann werde er eben seinen Balancierstab wegwerfen, sich aufs Seil setzen und auf den Rettungshubschrauber warten, der während des Kunststücks neben ihm herfliegt.

Natürlich ist das eine extreme Verharmlosung, wenn Wallenda so redet. Und doch wirkt es glaubhaft, dass er den gewagtesten Drahtseilakt aller Zeiten unter Kontrolle hat. So sehr das eben gehen kann. Wenn jemandem aber ein solcher Stunt zuzutrauen ist, dann Wallenda. Schon im Alter von drei Jahren haben seine Eltern ihn auf das Drahtseil gestellt. Er kommt aus einer der berühmtesten Artistenfamilien aller Zeiten. Niks Urgroßvater Karl kam in den 1920er Jahren in die USA, einem Ruf der berühmten Zirkusfamilie Barnum folgend. Die Flying Wallendas waren sofort eine Sensation in der Neuen Welt. Ihr Markenzeichen – die Siebenmannpyramide mit der kompletten Familie auf dem Drahtseil – war im ganzen Land ein Renner. Sogar ein Kinofilm wurde über sie gedreht.

Sie waren Entertainmentprofis, so wie Nik und seine Frau, die ebenfalls aus einer alten Artistenfamilie stammt und mit ihm zusammen auftritt. Und doch waren sie nicht vor der Tragödie gefeit. 1962 kollabierte die Pyramide, zwei Wallendas starben, einer ist seither querschnittgelähmt. Im Jahr 1978 erwischte es dann den Patriarchen Karl, der die Familie nach Amerika gebracht hatte. Er hatte sich mit 73 Jahren in Puerto Rico noch einmal auf das Seil gewagt, das nicht richtig gespannt war. Seitenwinde brachten ihn ins Wanken, er stürzte 40 Meter tief.

Die Familientragödien sind kein Hindernis

Nik Wallenda hat sich schon als kleiner Junge das Video vom Tod seines Urgroßvaters immer wieder angeschaut und mit dem Blick eines Experten die Ursachen für die Tragödie analysiert. Im vergangenen Jahr, als ausgewachsener Profi, ist er dann nach Puerto Rico gefahren und die gleiche Strecke gelaufen. Gemeinsam mit seiner Mutter. „Ich und meine Familie haben das gebraucht, um das hinter uns zu lassen“, sagt er.

Von Nik Wallendas Berufswunsch haben ihn freilich auch die Tragödien in seiner Familie nie abbringen können, es gab für ihn nie eine andere Option, als Artist zu werden. „Wir machen das seit sieben Generationen. Ich habe das im Blut. Das ist es, was ich bin.“ Natürlich will Wallenda bei seiner Familiengeschichte nicht irgendein beliebiger Seiltänzer sein, sondern der beste der Welt. „Ich möchte, dass mein Name der erste auf der Welt ist, der den Leuten einfällt, wenn sie an Seiltanz denken“, sagt er.

Deshalb hat er in New Jersey vor drei Jahren bereits den Rekord für die längste Fahrradfahrt auf einem Seil aufgestellt. Und deshalb möchte er die Niagarafälle überqueren und danach den Grand Canyon. Die Wasserfälle üben seit je einen besonderen Reiz auf Artisten aus, sie sind so etwas wie der Heilige Gral der Gaukler. Im 19. Jahrhundert stürzten sich die Sensationsgierigen zu Dutzenden dort in Fässern hinab. Und 1859 lief bereits der französische Artist Jean François Blondin über die Schlucht, die zu den Fällen hinführt.

Die Behörden sind erst nach zähem Ringen überzeugt

Über das Touristenziel selbst ist hingegen noch niemand auf einem Seil gelaufen, und Wallenda musste massive Widerstände überwinden, um die Erlaubnis dafür zu bekommen. Eigentlich wollte man, zumindest auf der kanadischen Seite, die Gaukleratmosphäre nicht mehr haben. Die Leute sollten lediglich kommen, um die Schönheit der Natur zu bewundern. Doch nach einem zähem Ringen und einer intensiven Lobbyarbeit an höchster Stelle überzeugte Wallenda schließlich die Behörden.

Jetzt zählt er die Tage, bis es im September mit seiner mutigen Tour auf einem schmalen Grat losgeht. „Das Leben findet auf dem Seil statt“, hatte sein Großvater Karl einmal gesagt. „Alles andere ist nur Warten.“ Nik Wallenda hat dieses Motto zu seiner Lebensphilosophie gemacht.