Vor drei Jahren hat in Japan ein furchtbares Erdbeben und der darauffolgende Tsunami das Atomkraftwerks Daiichi zerstört. Heute konzentriert sich das Land auf Olympia 2020 in Tokio – deshalb fehlen Leute, die radioaktiven Schutt wegräumen.

Als die japanische Hauptstadt Tokio im vergangenen September den Zuschlag bekam, 2020 die Olympischen Sommerspiele auszurichten, ging ein Jubelschrei durch Japan. Das Ansehen von Tokio würde steigen, das Land von der internationalen Aufmerksamkeit profitieren und das Bruttosozialprodukt geschätzte 0,5 Prozentpunkte zulegen. Nur in den Katastrophengebieten hielt sich der Jubel in Grenzen. Dort, wo am 11. März 2011 nach einem starken Erdbeben gigantische Tsunamiwellen mehr als 400 Kilometer Küste zerstört und zur Kernschmelze im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi geführt hatten, wuchsen im Gegenzug die Sorgen. Laut einer Umfrage der Zeitung „Asahi“ befürchten mehr als 60 Prozent der befragten Bürgermeister dort, dass die Vorbereitung auf die Olympischen Spiele   den Wiederaufbau in Nordjapan weiter verzögert.

 

Das Ergebnis überrascht nicht – allenfalls, dass es nicht noch deutlicher ausgefallen ist. Denn wer dieser Tage mit Menschen in Nordjapan spricht, braucht sie nicht erst auf die Olympiade anzusprechen. Alle erzählen von sich aus von ihrer Sorge, dass es bald für Privathaushalte noch schwerer werde, eine Baufirma zu finden, dass Handwerker nicht kämen und falls doch, seien sie unbezahlbar und erst Wochen später vor Ort. Schon jetzt stiegen die Preise für Baumaterialien an. Wer bis jetzt noch nicht gebaut hat, habe ohnehin nicht so viel Geld und könne sich die steigenden Preise erst recht nicht leisten.   Dabei hatte Japan seine Bewerbung für die Spiele auch damit begründet, dass Olympia den Wiederaufbau unterstützen würde.

„Erst der Wiederaufbau, dann Olympia“

Allerdings liegt die betroffene Region mehrere Hundert Kilometer von Tokio entfernt. In Nordjapan einige Sportstätten dafür zu bauen wäre schon deshalb keine Option, weil Tokio mit seinem kompakten Veranstaltungsgelände von acht Kilometern Durchmesser geworben hatte. Eine junge Frau in Kesennuma sagt, sie lehne einerseits die Olympischen Spiele   in Tokio ab, andererseits komme ein Sportler, der dort antreten würde, aus ihrer Stadt. Das mache es schwierig für sie, sich offen dagegen auszusprechen. Takuya Tasso, der Gouverneur der Präfektur Iwate, versuchte positiv zu klingen. Man hoffe, dass bei der Gelegenheit mehr Besucher auch nach Nordjapan kommen und die Menschen sich durch Olympia ermutigt fühlten.

So sehr er versuchte, sie zu verbergen – Sorgen macht auch er sich: „Wir werden an die Regierung appellieren, dass sie die Prioritäten setzt: Zuerst kommt der Wiederaufbau, dann die Olympiade“.   Anders als zum Beispiel das Nachbarland Taiwan, dessen Bauindustrie größtenteils aus Einwanderern aus Thailand besteht, kann sich Japan offenbar eine solche Lösung nicht vorstellen. Sowohl Wiederaufbauminister Takumi Nemoto als auch Gouverneur Tasso wichen Fragen danach aus. Dazu gebe es keine konkreten Pläne. Man könne sich vielleicht vorstellen, die „Trainee“-Programme weiter auszubauen. Unter dem Vorwand, junge Leute auszubilden, lädt Japan Arbeitswillige aus anderen asiatischen Ländern, meist Chinesen, ein; doch dann arbeiten sie in schlecht bezahlten Jobs, etwa an der Kasse von 24-Stunden-Supermärkten oder in Fischfabriken. Die Regierung hofft indes, dass sie mit Lohnerhöhungen und Kampagnen mehr junge Japaner in die Baubranche locken kann, wo es deutlich mehr freie Stellen als Fachkräfte gibt: Bei öffentlichen Bauvorhaben bekommen Arbeiter landesweit nun 15 Prozent mehr, in den Katastrophenregionen 21 Prozent.

Dem AKW in Fukushima gehen die Arbeitskräfte aus

Derweil haben in Tokio die Bau- und Renovierungsarbeiten im Vorfeld von Olympia schon begonnen. Ältere Japaner sagen, sie hatten schon im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele 1964 das Gefühl, dass wegen der Spiele alles Geld in Tokio investiert und von den ländlichen Gegenden abgezogen worden sei. Damals bekam Tokio eine Stadtautobahn, vielerorts auf Stelzen über Flüssen gebaut. Das reduzierte die Kosten und den Verwaltungsaufwand für Umsiedelungen. Während die großen Baufirmen viele neue Aufträge in Tokio erwarten, scheitert in den Katastrophengebieten Ausschreibung um Ausschreibung, weil sich die erwarteten Kosten und die Kostenvoranschläge der Baufirmen nicht annähernd decken. Aber selbst die Baufirmen haben Bedenken: Sie sind zurückhaltend damit, Fachkräfte anzulernen und mehr Leute einzustellen, weil sie befürchten, dass die Nachfrage nach Olympia stark abfällt. Auch auf einer weiteren Großbaustelle in Nordjapan könnten bald die Arbeitskräfte ausgehen: am havarierten AKW in Fukushima. Dort befürchtet man, dass bald niemand mehr zu umgerechnet 80 Euro am Tag radioaktiven Schutt beseitigen will, wenn höhere Löhne in Tokio locken. Auf Facebook kommentierte jemand kurz nach der gewonnenen Olympiaentscheidung: „Unsere Heimat Fukushima und Tokio, das bald die Olympiade abhalten wird, scheinen zwei verschiedene Welten zu sein.“