Das Dreigroschentheater lädt mit „Savannah Bay“ zu einem Grenzgang zwischen Vergessen und Verdrängen.

S-Süd - Du weißt nicht mehr, wer du bist, wer du gewesen bist, du weißt, dass du gespielt hast, du weißt nicht mehr, was du gespielt hast, was du spielst.“ Die ersten Worte aus Marguerite Duras‘ „Savannah Bay“, das Helmut O. Hertzfeld und Helen Pavel im Dreigroschentheater am Marienplatz inszeniert haben, schleudern den Zuschauer direkt ins Zentrum des Stücks – in den Geist der alternden Theaterdiva Madeleine (Ulrike Wolf), der oft im Dunkeln tappt oder im Nebel verschwimmender Erinnerung irregeht.

 

Annäherung an das Wesen von Erinnern und Vergessen

Ob ihr die Fakten aufgrund ihrer Demenz entgleiten oder zumindest punktuell durch selbst geschaffene Legenden ersetzt und verfälscht wurden, bleibt oft genug unklar. Auch die Motive der jungen Frau (Dorothea Böhme), die täglich bei der einstigen Bühnengröße vorbeischaut und sie mit Fragen löchert, bleiben vage. Noch nicht einmal einen Namen hat die Autorin dieser Figur spendiert. Trotzdem verdichtet sich im Laufe des 70-minütigen Theaterabends der Verdacht, es könne sich um Madeleines Enkelin handeln – das Kind jener Tochter, die sie während ihrer Karriere plötzlich aus den Augen verloren hat: im Wortsinn.

„Ich habe das Stück wirklich vorwärts und rückwärts gelesen und immer wieder in seine Bestandteile zerlegt“, rekapituliert Helen Pavel die Arbeit an „Savannah Bay“. „Es gibt keinen Schlüssel, mit dem sich die Geschichte komplett aufklären lässt. Man kann nur bestimmte Teile dessen, was Madeleine erzählt, verwerfen und andere als wahrscheinlicher bewerten.“ Damit ist der Text der 1914 im vietnamesischen Saigon geborenen Autorin eine Annäherung an das Wesen von Erinnern und Vergessen – die Herausbildung von Lebenslügen inbegriffen.

Natürlich spielt die Liebe bei alledem eine zentrale Rolle. Schließlich bekannte Duras einmal, sie sei überzeugt, dass sich die Menschheit bis zu ihrem letzten Seufzer von Liebesgeschichten ernähren werde. „C’est sûr que j’en mourrais, que j’en mourrais d’amour“, singt Edith Piaf im Hintergrund, wenn sich die beiden Frauen das erste Mal im schlichten Bühnenbild der Dreigroschen-Inszenierung begegnen.

Schildert Madeleine ihre eigene Vergangenheit?

Das Chanson über das Sterben für die Liebe ist eines von zwei Musikstücken, die Marguerite Duras zur Untermalung von Inszenierungen festgelegt hat. Für Madeleine dient er als Impuls, der den tragischen Selbstmord der Tochter ins Gedächtnis ruft – wenn dieser denn jemals stattgefunden hat. Franz Schuberts Adagio aus dem Streichquintett in C-Dur wiederum ist selbst ein Dokument des Verlusts an festem Halt bis hin zur Auflösung des musikalischen Metrums.

Halt sucht auch das ungleiche Paar im Rampenlicht. Immer wieder nähern sich die beiden an, umarmen sich, klammern sich für einen Moment aneinander, nur um sich gleich darauf wieder zu entfernen, sich fremd zu werden.

Herzfeld und Pavel setzen nur einzelne inszenatorische Akzente – gerade so viele, dass ein Minimum an Bewegung entsteht. Genug, um die Konzentration während der mühsamen Spurensuche aufrechtzuerhalten oder dem Hirn kleine Auszeiten zu ermöglichen. Der Kopf des Zuschauers spielt mit. Schildert Madeleine ihre eigene Vergangenheit? Versinkt sie in einer der Rollen, die sie einst verkörpert hat?

Am Ende gilt: der Vorhang zu und viele Fragen offen. Auch das Spiel der beiden Darstellerinnen lässt nur in einzelnen Momenten erahnen, dass sie gerade versuchen, sich gegenseitig aufs Glatteis zu führen. Ihr Verhältnis zueinander bleibt in der Schwebe. Die Spannung zwischen den Frauen steht noch im Raum, als das Licht angeht in Stuttgarts kleinstem Theater mit festem Jahresspielplan.

Die Intimität des Raumes hält die Stimmung von Duras‘ intensivem Kammerspiel noch minutenlang aufrecht. Mit „Savannah Bay“ haben ein Text und eine Spielstätte zueinander gefunden.