In Istanbul wird die dritte Brücke über den Bosporus feierlich eingeweiht. Brücken faszinieren die Menschen. Sie sind technische Meisterleistungen, Wahrzeichen der Sehnsucht und Symbole des Verbindenden.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Istanbul/Stuttgart - Schnell und zutreffend kommt das „Praktische Lehrbuch Türkisch“ von Langenscheidt bereits in einer frühen Ausgabe aus den 1970er Jahren auf den Kern des türkischen Selbstbewusstseins. „Türkiye büyüktür“ („Die Türkei ist groß“) lernt der wissbegierige Sprachschüler dort gleich in der ersten Lektion. Ein neues Beispiel für die „Größe“ dieses Landes am Rande Europas steht an diesem Freitag (26. August) an. Dann eröffnet der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan die dritte Bosporusbrücke.

 

Bau in Rekordzeit

Mit der Hängebrücke, die die Meerenge an ihrem nördlichsten Ende, an der Einmündung in das Schwarze Meer auf 1408 Metern Länge überspannt, hat die Türkei in rekordverdächtigen Zeit (Baubeginn war am 29. Mai 2013) ein neues Mega-Infrastrukturprojekt fertiggestellt. Noch im Frühjahr vergangenen Jahres standen allein die beiden mächtigen Pylone in der Meerenge, ragten als gewaltige Betonkolosse in den Himmel. Jetzt also, nach einer Bauzeit von weniger als vier Jahren, ist die Brücke fertig und mit ihr die zugehörigen achtspurigen Autobahnverbindungen auf europäischer und asiatischer Seite.

Namensgeber Selim I., der Gestrenge

Das nach dem osmanischen Sultan Selim I. („dem Gestrengen“ oder „dem Gerechten“) benannte Bauwerk (Yavuz-Sultan-Selim-Brücke) ist die dritte Bosporusbrücke, die Asien mit Europa verbindet. Mit ihr dehnt sich der Moloch Istanbul mit seinen geschätzten 15 Millionen Einwohnern bis an das Schwarze Meer aus. Von hier aus sind es rund 30 Kilometer Luftlinie bis zum historischen Zentrum der Stadt – mit Hagia Sophia, Blauer Moschee und dem alten Sultanspalast Topkapi, der den Bosporus an der südlichen Einmündung in das Marmarameer überragt.

Die neue Straßenverbindung soll dazu beitragen, den Verkehrsinfarkt in der Millionenmetropole abzuwenden, indem sie das eigentliche Stadtgebiet von Istanbul in einem großen Bogen im Norden umgeht. Gegner des Projekts kritisierten, durch die mit dem Bau einhergehende Verstädterung werde der Verkehr zu- und nicht abnehmen. Umweltschützer beklagten zudem die Zerstörung von Wäldern im Norden Istanbuls.

Das Brücken-Trio ist komplett

Über die Meerenge führten bisher schon die 1973 eröffnete Bosporus-Brücke (Bogaz Köprüsü) und die 15 Jahre später fertiggestellte Fatih-Sultan-Mehmet-Brücke, die nach Mehmed dem Eroberer benannt ist. Seit dem Putschversuch von Mitte Juli wurde die älteste von den dreien in „Brücke der Märtyrer des 15. Juli“ umbenannt – in Erinnerung an den zivilen Widerstand gegen die Putschisten, die die Brücke mit Panzern blockiert hatten. Wurde sie früher nachts in wechselnden Farben angestrahlt, so leuchtet sie seither allein in Rot, der Grundfarbe der türkischen Nationalflagge.

Faszination Brücken

Symbole menschlicher Sehnsucht

Zu allen Zeiten faszinierten Brücken Dichter, Maler, Musiker und Philosophen. Sie versetzen den Betrachter in ehrfürchtiges Staunen und ziehen ihn magisch in Bann. „Über sieben Brücken musst du gehn, sieben dunkle Jahre überstehn, siebenmal wirst du die Asche sein, aber einmal auch der helle Schein“, heißt es in einem der bekanntesten Brücken-Songs, der ursprünglich von der DDR-Rockband Karat stammt.

Brücken vereinen Menschen, Völker. Landschaften und Welten. Sie überwinden tiefe Schluchten, unwegsame Täler und reißende Flüsse. Dabei sind sie mehr als nur funktionale Konstruktionen aus Holz, Stein, Eisen oder Stahl, die zwei Orte auf der Landkarte miteinander verbinden. Brücken sind Symbole menschlicher Sehnsucht und Willensstärke. Wer sie – im metaphorischen Sinne – überquert, lässt die Vergangenheit hinter sich und bricht zu neuen Ufern auf. Brücken führen ins Vertraute oder ins Ungewisse.

Der erste Brückenbau markiert einen der wichtigsten Umbrüche in der Menschheitsgeschichte: den Übergang vom Ausgeliefertsein an die Natur zur Gestaltung und Formung der Welt als Heimstatt des Menschen. Im Gefolge der Neolithischen Revolution, die vor rund 10 000 Jahren begann und den Übergang vom mobilen Leben als Jäger, Sammler und Fischer zum sesshaften Dasein als Bauer darstellt, begann der Mensch auch damit Brücken zu bauen.

Philosophie der Brücke

Die ältesten archäologischen Funde stammen aus der Jungsteinzeit um 5500 v. Chr. Erste Holzpfade wurden durch gefährliche Moorlandschaften angelegt. Während der Bronzezeit entstanden in Mitteleuropa die ersten primitiven Holzbrücken. Ihr Bau war ökonomisch inspiriert: Die Menschen sparten Zeit, indem sie durch den Brückenbau gefährliche Umwege vermeiden konnten.

Der Philosoph Georg Simmel (1858-1918) war einer Ersten, der die „Korrelation von Getrenntheit und Vereinigung“ als zentrales Merkmal von Brücken hervorhob. Im Essay „Brücke und Tür“ (1909) schreibt er: „Die Menschen, die zuerst eine Weg zwischen zwei Orten anlegten, vollbrachten eine der größten menschlichen Leistungen . . . Im Bau der Brücke gewinnt diese Leistung ihren Höhepunkt.“ Hindernisse überwindend, „symbolisiert die Brücke die Ausbreitung unserer Willenssphäre über den Raum“.

Der Philosoph Martin Heidegger (1889-1976) verklärt die Gebilde in seinem Vortrag „Bauen Wohnen Denken“ (1951) in poetisch-religiösen Bildern: „Die Brücke versammelt auf ihre Weise Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen bei sich.“

Für Friedrich Nietzsche (1844-1900) hat der Mensch selbst eine Brückenfunktion inne: „Was groß ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: Was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist“, heißt es in seinem Hauptwerk „Also sprach Zarathustra“.

Brücken – Mythologie und Technik

Bögen des Lebens

In einem übertragenen Sinne sind Brücken Bögen des Lebens, die der Mensch beschreitet. In Träumen sind sie ein häufig vorkommendes Symbolbild, das auf den Übergang von einer in eine andere Lebensphase hinweist. Sie verbinden Gegensätze im Fühlen, Denken und Handeln, überbrücken Schwierigkeiten und führen zusammen, was zusammengehört.  

In der Mythologie fungieren Brücken als Übergang zwischen den Daseinssphären – wie der sagenumwobene „Bifröst“ in der nordischen Mythologie. Dort stellte man sich den Übergang zwischen Diesseits und Jenseits als schwankende Himmelsstraße und dreistrahlige Regenbogenbrücke vor. Diese sogenannte Asenbrücke verbindet die Erdenwelt Midgard mit dem Himmelsreich Asgard. Die Asen – das Göttergeschlecht um Odin und Thor – benutzten sie, um von Asgard nach Midgard zu gelangen. „Von Asgard aus schlugen sie eine Brücke, auf dass ihnen Midgard nie entrücke“, heißt es in einem alten nordischen Gedicht.

Der Papst – „Pontifex maxismus“

Bis heute trägt das katholische Kirchenoberhaupt den Titel „Pontifex maximus“ – größter Brückenbauer zwischen Himmel und Erde –, eine Ehrbezeichnung, die die Päpste von den antiken römischen Kaisern übernommen haben.

Brücken stehen für ein projektives Handeln, das Ausdruck des menschlichen Willens ist, Grenzen zu überschreiten und die Natur nach seinem Willen zu gestalten. In dieser Hinsicht sind sie technologisch-ästhetische Meilensteine der Zivilisation. Wie die ersten Brückenbauer entnehmen auch die heutigen Ingenieure ihre Ideen der Natur. Die älteste Konstruktion – die Balkenbrücke – beruht auf denselben statischen Prinzipien wie ihre natürlichen Vorgänger, etwa ein umgestürzter Baum, der über einer Schlucht liegt.

Pont Du Gard und die Geschichte der Brücken

Die ersten Bogenbrücken wurden von den Römern angelegt, die die Brückenarchitektur perfektionierten. Besonders eindrucksvoll ist der Pont du Gard, ein 49 Meter hohes und 275 Meter langes Aquädukt aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. in Südfrankreich. Die aus drei Ebenen bestehende Brücke aus Kalksteinen beinhaltet einen der am besten erhaltenen Wasserkanäle aus der Römerzeit.

Brücken sind aber auch Orte des Untergangs. In Kriegen sind sie ein bevorzugtes Angriffsziel, das Feldzüge beschleunigen oder zum Stillstand bringen kann. Die Geschichte des Krieges hängt eng zusammen mit gesprengten, bombardierten oder strategisch angelegten Brücken. Der persische Großkönig Xerxes I. ließ im Jahr 480 v. Chr. die Pontonbrücke über den Hellespont bauen, um die griechischen Stadtstaaten zu erobern. Der römische Feldheer Julius Cäsar ließ während des Gallischen Krieges 55 v. Chr. eine hölzerne Konstruktion über den Rhein errichten, um eine Strafexpedition gegen die Germanen durchzuführen und zugleich potenziellen Feinden die technischen und militärischen Möglichkeiten des „Imperium Romanun“ zu demonstrieren.

Nur wenige Brücken sind so voller Symbolik wie die berühmte „Stari most“. Dieses aus dem 16. Jahrhundert stammende Bauwerk überspannt den Fluss Neretva und verbindet den bosniakisch-muslimisch geprägten Ostteil mit dem kroatisch-katholisch geprägten Westteil der Stadt Mostar in Bosnien-Herzegowina. Am 9. November 1993 wurde sie von kroatischer Artillerie zerstört, danach restauriert und 2004 wieder eröffnet. Diese „Alte Brücke“ ist so zu einem Wahrzeichen für Krieg und die Sehnsucht nach Frieden geworden.