In seinem zweiten Fall, „Die Möglichkeit eines Verbrechens“, ist der israelische Inspektor noch unsouveräner als im ersten. Der Autor Dror Mishani hat ihn damals Ermittlungsfehler begehen lassen, mit denen der Polizist nun immer noch hadern muss.

Stuttgart - Inspektor Avi Avraham ist kein Actionheld. Er ist Beamter. Seine polizeilichen Ermittlungen bewegen sich im Rahmen der Vorschriften und Zeremonien. Er fährt in Cholon, einem Vorort von Tel Aviv, an Tatorte und befragt Bürger. Wenn sie nicht antworten wollen, antworten sie nicht. Manche lädt Avraham dann vor, sie sitzen stundenlang mit ihm im Verhörraum. Angenehm ist das nicht, aber darum noch keine Garantie, der Wahrheit auch nur einen Schritt näher zu kommen.

 

Vorschriften, Besprechungen, Berichtskanäle – trotz dieser fremdbestimmten Formen der Ermittlung ist Avrahams essenzielles kriminalistisches Instrument rational nicht fassbar und gerichtlich nicht verwertbar: das Bauchgefühl. Das verbindet den Inspektor zwar mit vielen legendären Figuren der Kriminalliteratur , aber gerade denen traut Avraham nicht viel zu. Er liest nämlich Krimis, aber stets, um festzustellen, dass die vom fiktiven Ermittler und vom Autor ausgetüftelte Lösung die falsche ist, dass mal um mal am Romanende die wahren Täter entkommen sein müssen.

In Dror Mishanis „Die Möglichkeit eines Verbrechens“, dem zweiten Avraham-Roman, ist der Polizist sich selbst gegenüber noch viel unsicherer als im Vorgänger „Vermisst“. In dem nämlich hat der Inspektor Ermittlungsfehler begangen, die im Lauf des Falles nicht mehr wiedergutzumachen waren. Sein Bauchgefühl hat ihn betrogen.

Zurück aus einem längeren Erholungsurlaub, den man auch als zeitweilige selbst gewählte Suspendierung sehen könnte, muss Avraham in „Die Möglichkeit eines Verbrechens“ aber unter Zeitdruck ermitteln. Jemand hat vor einem Kindergarten eine Bombenattrappe abgestellt. Falls das kein schlechter Scherz, sondern einen ernste Drohung war, könnte ein realer Anschlag folgen. Avraham sollte also schnellstmöglich jemanden in Haft nehmen.

Aber wen? Die Zweifel, das Zögern, die vielleicht falschen Festlegungen Avrahams sind das Thema, das Mishani, Literaturprofessor in Jerusalem mit dem Spezialgebiet Kriminalliteratur, bedächtig behandelt. Zugleich aber baut er ganz klassisch Spannung auf: „Die Möglichkeit eines Verbrechens“ ist ein Nervenkitzler par excellence.

Und zwar deshalb, weil Mishani uns nicht auf die Perspektive des Polizisten beschränkt. Wir können auch verfolgen, welche seltsamen Dinge ein Tatverdächtiger treibt, noch bevor Avraham ihn das erste mal auch nur befragt hat. Aber auch wir werden zunächst nicht schlau aus dem Handeln, Reden, Denken dieses ältlichen Vaters zweier kleiner Kinder. Wie soll man das zu einem Bild zusammenbauen, was man an Fetzchen vom Leben eines anderen erhascht? Das ist eine Krimi-Grundfrage, die Dror Mishani zu weit mehr als neckischen Verwirrspielen nutzt.

Dror Mishani: „Die Möglichkeit eines Verbrechens“. Roman. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2015. 333 Seiten, 19,99 Euro. Auch als E-Book, 15,99 Euro.