Sie kommen mit Klemmbrett, einer manipulierten Spenderliste und sind angeblich taubstumm: Kolonnen von dubiosen osteuropäischen Spendensammlern ziehen verstärkt durch die Stadt. Vor Polizei und Justiz müssen sich die Täter kaum fürchten.

Lokales: Wolf-Dieter Obst (wdo)

Stuttgart - Die 72-Jährige wird überrumpelt. Sie hat ihr Auto am Hölderlinplatz im Stuttgarter Westen geparkt, als der Fremde an die Scheibe klopft. Er hält ihr ein Klemmbrett vor die Nase, mit einer Spendenliste, auf der die Frau eine Deutschlandfahne und das Wort Gehörlosenzentrum erkennt. Der Mann gibt seltsame Töne von sich. „Man ist natürlich betroffen, weil man es mit einem behinderten Menschen zu tun hat“, sagt die 72-Jährige. Sie gibt dem Mann fünf Euro. Und schöpft zu spät Verdacht.

 

Es ist ja nicht so, dass noch nie über dubiose osteuropäische Betrüger-Kolonnen und Betteltrupps berichtet worden wäre. Die 72-Jährige sagt, dass sie darüber immer wieder in der Zeitung gelesen habe. An jenem Montag gegen 12 Uhr ist sie nun selbst mittendrin. Das merkt sie, als der dunkel gekleidete Fremde unfreundlich wird und auf die Kladde zeigt. Auf der Liste sind 50 und 100 Euro eingetragen. Als die Frau nach dem Klemmbrett greift, schlägt der Unbekannte ihr auf die Finger – und flüchtet mit einem Komplizen. Er schimpft in einer fremden Sprache. Von wegen taubstumm.

Hinterher schämen sich die Opfer

Die 72-Jährige hat nur fünf Euro verloren. Damit ist sie noch gut weggekommen. Ein angeblich Taubstummer, der ein paar Tage zuvor eine 21-Jährige an einer Bushaltestelle in der Schwabstraße bedrängt hatte, hatte eine Geldbörse aus der Handtasche mitgehen lassen. Quer durch die Region ziehen sich die Fälle, bei denen Langfinger mehrere Hundert Euro erbeuteten. 42 von der Polizei vermeldete spektakuläre Fälle sind nur die Spitze eines Eisbergs. Allein in Filderstadt und Leinfelden-Echterdingen (Kreis Esslingen) gab es in vier Wochen 20 Meldungen, in Böblingen 19, in Sindelfingen 13.

„Noch schlimmer ist, dass man sich hinterher dafür schämt, auf so etwas reingefallen zu sein“, sagt die 72-jährige aus dem Stuttgarter Westen. Sie fuhr an dem fraglichen Tag den Tätern noch hinterher, trifft dabei auf eine Passantin, die einen Euro gespendet hat, entdeckt in der Traubenstraße eine Polizeistreife. Die nimmt auch gleich die Fahndung auf – aber die Täter sind weg.

Freilich: Werden Tatverdächtige erwischt, müssen sie selten schwere Konsequenzen fürchten. „Ein Betrug ist nur schwer nachzuweisen“, sagt Staatsanwaltssprecher Jan Holzner. Meist können die Opfer nicht ausfindig gemacht oder die Geldscheine zugeordnet werden – oder aber es handelt sich nur um geringe Summen. Die Frauen und Männer, auffällig häufig mit rumänischer Staatszugehörigkeit, werden so nur kurz aufgehalten.

Zum Beispiel zwei 19 und 26 Jahre alte Männer, einschlägig polizeibekannt, die als angeblich Taubstumme in der Bolzstraße in der Innenstadt erwischt werden. Bei ihnen können nur 46 und 50 Euro gefunden werden. Das Geld wird als Sicherheitsleistung einbehalten, das Duo kann wieder gehen. „Dieses Verfahren ist nach Paragraf 153 a wegen Geringfügigkeit eingestellt worden“, sagt Holzner. Im Bundeszentralregister taucht das nicht auf. Bei der nächsten Festnahme dürften die beiden Männer aus Rumänien somit immer noch eine blütenweise Weste haben.

Die Verfahren werden eingestellt

Andere Beispiele aus den vergangenen Tagen: Zwei Männer und zwei Frauen, 24 bis 27 Jahre alt, werden in Rutesheim (Kreis Böblingen) erwischt. Sie sammeln angeblich im Namen einer Münchner Hilfsorganisation für behinderte und taubstumme Kinder. Eine 76-Jährige will einen kleinen Betrag spenden, die Sammlerin nimmt ihr einen größeren Schein ab und flüchtet. Verhängte Strafe: Das Quartett aus Rumänien muss mit einem Zustellungsbevollmächtigten beim Amtsgericht Leonberg Kontakt halten.

Bissige Täterinnen im Seniorenheim

Noch dreister treten zwei Frauen in Schwieberdingen (Kreis Ludwigsburg) auf: Sie dringen in das Zimmer einer 68-Jährigen in einem Seniorenheim ein, fordern eine Spende. Pflegerinnen können die 20 und 24 Jahre alten Frauen festhalten. Dabei werden zwei Mitarbeiterinnen gebissen, eine gekratzt. Die aus Rumänien stammenden Täterinnen kommen nach der Anzeigenaufnahme wieder frei. Auch für sie wird ein Zustellungsbevollmächtigter bei einem Amtsgericht bestellt. „Damit erreichen wir, dass Strafbefehle dann als zugestellt gelten und damit rechtskräftig und vollstreckbar sind“, sagt Staatsanwalt Holzner.

Wenn überhaupt. Wird ein Verfahren wegen mangelnden Nachweises nach Paragraf 170 Strafprozessordnung eingestellt, steht die Vorbelastung eines Wiederholungstäters wieder auf Null. So passierte einem rumänischen Trio im Alter von 20 und 21 Jahren nicht viel, das im Stadtbezirk Möhringen unterwegs war. „Die Personen wurden vor einem Einkaufsmarkt in der Rembrandtstraße überprüft“, sagt Polizeisprecher Thomas Doll. Aber mehr als eine Spendenliste und etwas Bargeld war bei den Dreien nicht zu finden. „Sie kamen wieder auf freien Fuß“, sagt Doll, „Geschädigte waren nicht zu ermitteln.“

Und was ist mit den Ordnungsbehörden? Dass der Städtische Vollzugsdienst mehr erreichen könnte, dem erteilt Stadtsprecher Martin Thronberens eine klare Absage: „Bettelbetrugist ein Straftatbestand, dafür ist allein die Polizei zuständig.“ Wenn Mitarbeiter illegale Sammler finden, werden die sichergestellten Unterlagen der Polizei übergeben. Auf Parkplätzen von Supermärkten gelte das Hausrecht, der Vollzugsdienst sei dort nicht zuständig. Einen Grund für die Machtlosigkeit hat Thronberens ausgemacht: „Nachdem das Sammlungsgesetz Baden-Württemberg 2011 ersatzlos aufgehoben wurde, ist es schwierig den Auswüchsen entgegenzuwirken.“