1912 floh Marcel Duchamp aus Paris nach München. Dort soll er erste Anregungen zu seinen Ready-Mades erhalten haben – behauptet die Schau im Kunstbau.

Stuttgart - Manchmal hilft nur Luftveränderung. Mit kleinlichen Argumenten wurde Marcel Duchamps jugendliches Meisterstück „Akt eine Treppe herabsteigend Nr. 2“ bei einer wichtigen Pariser Ausstellung abgelehnt. Zu dem schmerzlichen Karriereknick kam auch noch die unglückliche Liebe zur Ehefrau des Kollegen Francis Picabia. Zwei gute Gründe, sich eine Auszeit vom Montmartre zu nehmen. Im Juni 1912 bestieg der 25-Jährige den Zug nach Deutschland. Sein Ziel war München. In der Voralpenluft der Isarmetropole wollte er psychisch entschlacken und versuchen, wieder einen klaren kreativen Kopf zu bekommen. Er blieb knapp drei Monate. Eine biografisch kurze, aber prägende Lebensstation. München, wird Duchamps später notieren, sei „der Ort seiner völligen Befreiung“ gewesen.

 

Was er damit genau gemeint haben könnte, ist in der Forschung bislang umstritten. Neue Deutungsvorschläge riskiert eine Münchener Ausstellung zum Hundert-Jahr-Jubiläum von Duchamps bayerischem Sommer. Anhand von Bildern, Objekten und Dokumentationsmaterial stellt der Kunstbau des Lenbachhauses gleich zwei kühne Thesen auf. Die Eindrücke und Erlebnisse in der Stadt hätten demnach nicht nur die Malerei des Franzosen in stilistisch neue Bahnen gelenkt, sondern auch die Initialzündung für die folgenreichste Kunstrevolution der Moderne gebracht: die Ruck-zuck-fertig-Plastik des Ready-Mades.

Manchmal nehmen sich die Bayern ziemlich wichtig

Zustimmen kann man beidem nur mit Einschränkungen, aber dass sich die Bayern bisweilen wichtiger nehmen, als sie eigentlich sind, ist ja nichts Neues und sei auch vergeben. Schließlich gelang es dem Hausherren Helmut Friedel, ein echtes Sensationswerk über den Atlantik zu holen. Seit langer Zeit ist „Akt eine Treppe herabsteigend Nr. 2“ wieder in Europa und zum ersten Mal in Deutschland zu sehen.

Das Gemälde, dessen schmähliche Verkennung Duchamps Reise motivierte, stellt den Ausgangspunkt der Präsentation dar, zugleich allerdings auch deren einzigen Höhepunkt. Wie ein Heiligenbild in der Kirche hängt der braungrau vibrierende Treppenakt einsam an einem Betonpfeiler. Die in mehrere Scheiben lamellenartig aufgefächerte Stiegengestalt nimmt jene technisch-anonyme Formensprache vorweg, welche bei den wenigen in München selbst entstandenen Bildern dann voll durchschlägt.

Zylinder, Ventile, Drähte

Mit der Bizarrabstraktion der „Braut“ malt sich Marcel Duchamp im August 1912 vollends aus der Einflusssphäre der Kubisten heraus. Neben organisch-anatomischen Elementen bestimmen Assoziationen an Zylinder, Ventile, Drähte oder Zahnräder das offene Körperinnere der Hydraulikfrau. War es Zufall, dass der Maler zur gleichen Zeit Motorenmodelle (vor allem solche schwäbischer Bauart) im Deutschen Museum bestaunt hatte? Bei dem in einer Pappkiste, der „Grünen Schachtel“, verwahrten Konvolut von Blättern handelt es sich abermals um eine maschinistische Fiktion, deren Ursprung in München zu suchen ist. Ähnliches gilt für die enigmatischen Apparaturen des großen Glasbildes, das leider nur noch als Replik von 1965/66 existiert.

Trotz einiger Stücke aus anderen Schaffensphasen des Künstlers will die Ausstellung nicht den Längsschnitt einer monografischen Retrospektive bieten, sondern einen Querschnitt. Die Werkauswahl konzentriert sich konsequent auf das Jahr 1912, um den Duchamp der Münchener Monate kulturhistorisch in diese Zeit einzubetten. Alte Postkarten des Hofbräuhauses oder Bilder vom Oktoberfest treffen auf Dokumente wie den polizeilichen Meldebogen des Gastes. Dem Eintrag im Formular zufolge war Duchamp als „Kunstmaler“ gekommen. Aber als er wieder abreiste, war er vielleicht schon Objektbildhauer. So hätten es zumindest die Ausstellungsmacher gern.

Anders als die Gemälde fügten Duchamps Ready Mades wie das Pissoir oder der Flaschentrockner der Kunst nicht einfach nur ein neues Kapitel hinzu, nein, den Kunstbegriff selbst haben sie radikal umgestülpt. Was Kunst ist, bestimmen Künstler. Fortan wurden Bilder nicht gemacht, sie wurden gefunden. Auf Trödelmärkten, in Möbelgeschäften oder Fabriken – Hauptsache industriell vorgefertigt. Obwohl der letztgültige Beweis fehlt, kann man sich immerhin vorstellen, dass Duchamp schon erste Ready-Made-Gedanken hegte, als er 1912 die Bayrische Gewerbeschau besuchte.

In den Cafés der Schwabinger Boheme

Offiziell entstand 1913 das erste Ready-Made: das auf einen Schemel geschraubte „Fahrrad-Rad“. Da München seinerzeit ein Zentrum des Drahteselsports in Deutschland war, glauben die Kuratoren, die Idee zur Inkunabel der dadaistischen Objektkunst wäre auf bajuwarischem Boden herangereift. Kritisch anmerken sollte man freilich, dass die Radbegeisterung im Heimatland der Tour de France auch nicht ganz gering gewesen sein dürfte. Zudem werden Anregungen der späteren Amerika-Aufenthalte und die Geschwindigkeitsästhetik der italienischen Futuristen im Katalog dezent heruntergespielt.

Selbstverständlich ließ sich der Franzose in München auch dort blicken, wohin es alle Münchener Künstler der Zeit zog. In die Cafés der Schwabinger Boheme und die Schausäle der Alten Pinakothek. Dort studierte er, wie Zeichnungen belegen, eifrig die Werke Lucas Cranachs d. Ä., der auf das zweite wichtige Gemälde aus Duchamps Bayern-Zeit abfärbte, im wahrsten Sinne des Wortes, erinnert doch die warme, rosa bis bräunliche Tonalität der orgiastischen Körpermetamorphose „Übergang von der Jungfrau zur Braut“ an das Inkarnat des deutschen Renaissancemeisters.

Korrespondenzen und Tagebücher

Welche Spuren Münchens Staravantgardist Wassily Kandinsky in Duchamps Œuvre hinterlassen haben soll oder wie fruchtbar die Freundschaft mit dem deutschen Spätimpressionisten Max Bergmann war, wird dagegen nicht schlüssig herausgearbeitet. Die Korrespondenzen und Tagebücher füllen die Vitrinen nur mit staubgrauer Faktenkümmernis. Kaum mehr als Spekulation bleiben auch Überlegungen, der junge Duchamp könnte etwas vom frechen Schalksgeist Karl Valentins mit nach Paris genommen haben.

Doch zum Abschluss etwas Versöhnliches. Trotz ihres begrenzten Rahmens eignet sich die Schau bestens zur Einführung in das beziehungsreiche Werk des Künstlers. Dafür eignet sich nicht zuletzt die ausgestellte „Schachtel im Koffer“, die Duchamp als eine Art mobiles Museum mit Reproduktionen seiner Hauptwerke bestückte. Ein Tragaltar zu Ehren der eigenen Kunst, Mini-Urinal inklusive.

Bis 15. Juli Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr. Der Katalog kostet 32 Euro.