Mehr Alte als Babys: wie viele andere Länder leidet Serbien unter einer niedrigen Geburtenrate. Unser Korrespondent Thomas Roser hat zwei Kinder, also fast schon eine Großfamilie. Selbst Fremde freuen sich darüber.

Korrespondenten: Thomas Roser (tro)

Belgrad - „Deck das Kind zu, es friert!“ Die Ratschläge wohlmeinender Zeitgenossen nerven uns Eltern wesentlich mehr als unseren jüngsten, mit buddhistischer Gelassenheit in seinem Babyspeck ruhenden Familienzuwachs. Mit zahnlosem, aber freundlichem Babylächeln reagiert Mila auf die Mahnungen und merkwürdigen Neck-Laute völlig unbekannter, sich über ihren Kinderwagen beugender Mitmenschen. Die ihr – wie allen Altersgenossen auch – zuteil werdende Aufmerksamkeit in Serbien hat einen guten Grund: Nachwuchs wird im Land von Donau und Save immer seltener.

 

Gerade noch 65 000 serbische Seelen zählt Milas Geburtsjahrgang 2013. Laut dem nationalen Statistikamt wurden seit 1900 nicht mehr so wenig Kinder geboren wie im letzten Jahr. Selbst während der beiden Weltkriege und der Jugoslawienkriege der neunziger Jahre erblickten in dem kriegs- und katastrophenerprobten Land deutlich mehr neue Erdenbürger das Lebenslicht als heute. Nur in acht von 168 Kommunen übertrifft die Geburtenrate noch die Sterbeziffer. Wenn sich der Trend fortsetze, werde Serbiens Bevölkerung von derzeit 7,1 Millionen in 50 Jahren auf die Hälfte schwinden, schreibt das Boulevardblatt „Alo!“ und spricht besorgt von einer „schwarzen Statistik“: „Es wird gerade noch genug Serben geben, um unter dem Birnbaum zu sitzen.“

Sind Armut und Unsicherheit Schuld?

Unsere Kinder Martin und Mila könnten dabei sein. Denn an dem von den Politikern vielfach beklagten Volksschwund tragen wir ausnahmsweise keine Schuld. Mit unseren beiden Sprösslingen zählen wir fast als Großfamilie. Unser binationaler Haushalt hat zwar spät, aber immerhin das nationale Reproduktionssoll erfüllt. Allerdings scheint die Überalterung der serbischen Bevölkerung trotz unserer Anstrengungen kaum aufzuhören. Obwohl die Lebenserwartung in Serbien den Statistikern zufolge nur bei 74 Jahren und damit sieben Jahre unter der in Westeuropa liegt, ist das Durchschnittsalter des vom Nachwuchsmangel geplagten Balkanstaats auf 42,2 Jahre und damit auf westliches Niveau geklettert.

Eifrig üben sich Soziologen und Demografen an der Ursachenforschung für den durch anhaltende Emigration zusätzlich verschärften Babyschwund, der auch in anderen Ländern Südosteuropas zu beobachten ist. Wirtschaftliche Gründe, die hohe Arbeitslosigkeit von fast 30 Prozent und die unsicheren Zukunftsperspektiven werden als Erklärung für die sinkende Geburtsrate ins Feld geführt. Wer nicht wisse, wie er seine Brut ernähren solle und mit 35 Jahren noch immer arbeitslos zu Hause bei den Eltern lebe, der setze einfach weniger Kinder in die Welt, so die gängigste These.

Man freut sich – auch über die Kinder von anderen

Andere wenden ein, dass die Vielvölkerregion des Balkans auch früher kaum mit Wohlstand gesegnet, sondern eher von Armut geplagt worden sei. Den „Egoismus“ und „Hedonismus“ der heutigen Zeit macht beispielsweise der Psychiater Jovan Coric für den gebremsten Vermehrungsdrang seiner Landsleute verantwortlich: „Serbien war nie reich. Auch unsere Eltern und Großeltern plagten sich in Armut ab. Aber Kinder hatten für sie noch Priorität.“

Ob der einstige Kinderreichtum tatsächlich immer gewollt war, ist nachträglich nur schwer zu ergründen. Fest steht, dass die Anteilnahme auch am fremden Kind im kinderfreundlichen Serbien Tradition hat. Besonders gerne kleidet die leidgeprüfte Mutter unseren Spross mittlerweile in ein T-Shirt, das kürzlich eine Tante aus dem kroatischen Zagreb schickte. Dessen Botschaft: „Meine Mama braucht euren Rat nicht.“