Die Kluft zwischen Arm und Reich wird in Brasilien immer kleiner? Von wegen, sagt unser Kolumnist Wolfgang Kunath.

Rio de Janeiro - Wenn man beim Großen Alleswisser das Wort „gefühlte“ eingibt, ergänzt der Computer: „gefühlte Temperatur“, „gefühlte Wahrheit“, „gefüllte Paprika“. Was will uns Google damit sagen? Gar nichts natürlich. Und dass die Gefühle trügerisch sind, wissen wir auch so.

 

In den feinen Vierteln von Rio treibt neuerdings eine Bande ihr Unwesen, die reichen Leuten ihre Uhren vom Arm reißt. Wenn so viele mehrere tausend Euro am Armgelenk spazieren tragen, dass sich eine Bande auf sie spezialisiert hat, dann können die Statistiker erzählen, was sie wollen. Dass die Kluft zwischen Arm und Reich immer kleiner wird in Brasilien, glaubt man zu allerletzt. Ein zweites Beispiel: Der Absatz von Autos ist in Brasilien von Januar bis August um zehn Prozent eingebrochen. Aber die Firma Audi, deren Produkte hier zwischen 29 000 und 200 000 Euro kosten, konnte ihre Verkäufe im ersten Halbjahr um 120 Prozent steigern.

Politiker wiederholen begeistert, was die Statistiker sagen

Die gefühlte Ungleichheit nimmt also zu, selbst wenn der Verstand einwendet, dass die Kluft zwischen Arm und Reich auch kleiner werden kann, wenn die Reichen reicher werden. Die Armen müssen nur entsprechend schneller weniger arm werden. Genau das sei in den letzten zehn Jahren passiert, sagen die Statistiker. Die Politiker wiederholen das begeistert. Brasilien schüttelt die Bürde der Vergangenheit ab und wird immer gerechter und gleicher!

Das Problem ist nur: Es stimmt nicht. Dass sich die Kluft langsam schließt, fußt auf jährlichen Umfragen in ausgewählten Haushalten, bei denen Arme und Reiche nach ihren Einkünften gefragt werden. Da die Armen in den vergangenen Jahren zugelegt haben, kann man daraus berechnen, dass die Ungleichheit gesunken ist.

„Falsch!“, sagt nun eine Gruppe von Ökonomen der Universität Brasília. Denn die Reichen haben zusätzliche Einkünfte aus Immobilien- und Kapitalbesitz, die sie den Befragenden nicht auf die Nase gebunden haben. Die Ökonomen hatten erstmals Zugang zu den Daten der Finanzämter, konnten also die anderen Einkünfte in die Rechnung einbeziehen. Das Ergebnis: die Ungleichheit ist deutlich größer, als seit Jahren stolz verkündet wird.

Gefüllte Paprika hin oder her: der Wahrheitsgehalt der gefühlten Ungleichheit scheint es mit dem der wissenschaftlich gemessenen aufnehmen zu können.