Während Edgar Selge der Schauspieler des Jahres ist, stehen die besten Theater der Republik in Berlin – das ist das Ergebnis des jährlichen Kritiker-Rankings der Fachzeitschrift „Theater heute“.

Stuttgart - Von dieser Inszenierung waren viele begeistert, nicht zuletzt die Kritikerin dieser Zeitung. Der Abend zeige, was erfolgreiche Ideologien ausmache, nämlich das starke, verführerische Wort, schrieb die Kollegin über die im Hamburger Schauspielhaus uraufgeführte „Unterwerfung“. Dabei ließ sie keinen Zweifel, wem der Erfolg der Houellebecq-Dramatisierung zu verdanken sei: dem Schauspieler Edgar Selge, der mit „funkelnder Erzählerlust und Freude an der Stimmenimitation“ den dreistündigen Monolog fulminant stemme und das „Publikum mit spielerischer und rhetorischer Intensität zum Nachvollzug absurdester Gedankenspiele“ zwinge. Andere Kritiker sahen das ebenso und haben Selge jetzt für seine Rolle als Francois, der zum Islam konvertiert, zum Schauspieler des Jahres gewählt.

 

Die jährliche Umfrage der Fachzeitschrift „Theater heute“ gilt als Gradmesser der Branche. 43 Kritiker haben sich in diesem Jahr daran beteiligt, darunter auch der Autor dieser Zeilen – und wer dank ihrer Stimmen auf die vorderen Plätze auf rund einem Dutzend Felder gewählt, hat Grund zum Jubeln. Über den Triumph für Selge darf sich nun auch Stuttgart freuen, schließlich gehört der 68-jährige Ausnahmespieler noch immer fest zum Ensemble des Schauspiels von Armin Petra. Dass Selge in der abgelaufenen Saison bei keiner Stuttgarter Premiere mitwirkte und nur in Repertoire-Vorstellungen zu sehen war, mag die Freude etwas mindern, ebenso die Tatsache, dass er umgekehrt häufig an anderen Theatern der Republik gastiert. In der kommenden Saison wird Selge aber auch in Stuttgart wieder präsenter sein. Unter der Regie des Hausherrn spielt er in O’Neills Familiendrama „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ mit, übrigens an der Seite von Peter Kurth, der vor zwei Jahren zum Schauspieler des Jahres gekürt wurde.

Auf Platz zwei hinter Selge, der sieben Kritikerstimmen auf sich vereinen konnte, liegt Martin Wuttke mit vier Stimmen. Zuletzt hat Wuttke in René Polleschs „Stadion der Weltjugend“ brilliert, einer Produktion des Stuttgarter Schauspiels im Kornwestheimer Autokino, ausgezeichnet wird er aber jetzt als verkommener und versoffener Titelheld in „John Gabriel Borkman“ im Wiener Burgtheater. Seine Partnerin ist dabei Caroline Peters, die für ihre Rolle als Ella Rentheim zur besten Schauspielerin erkoren wurde, weshalb es nicht überrascht, dass sich auch die gesamte Inszenierung von Simon Stone den Orden als Inszenierung des Jahres anheften darf.

Der Australier Simon Stone, Shooting-Star der Saison, arbeitet in Basel, das knapp den Titel des besten Theaters verpasst hat. Es liegt auf Platz zwei hinter der Berliner Volksbühne und dem ebenfalls in Berlin beheimateten Maxim-Gorki-Theaters, die gleichauf Theater des Jahres geworden sind. Berlin als Hauptstadt des Theaters – das kommt in Rankings öfters vor, wobei es im aktuellen Fall doch die beiden Besonderheiten gibt, dass Frank Castorf in seine letzte Spielzeit an der preisgekrönten Volksbühne geht und Shermin Langhoff abermals eine eindrucksvolle Bestätigung für ihre politisch und postmigrantisch engagierte Arbeit am Gorki bekommt: Schon vor zwei Jahren haben die Kritiker ihr Haus zur besten Bühne der Republik ausgerufen. Und last, not least noch eine freudig-traurige Besonderheit: Die Auszeichnung als bester Bühnenbilder erhält posthum – und zum vierten Mal – Bert Neumann für seine Versiegelung der Castorf’schen Volksbühne. Auch er hätte noch in Stuttgart arbeiten sollen, unter anderem für Polleschs „Weltjugend“. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Vor einem Jahr ist Bert Neumann überraschend gestorben.