Warum der CSD viel mehr ist als Glitzershorts und Engelsflügel - und weshalb diese Parade auf absehbare Zeit nicht obsolet wird.

Stuttgart – Gleichberechtigung ist ein großes Wort. Wo fängt sie an, wo hört sie auf? Kleinkariert betrachtet ist es ja so: Wenn ich der Mutter mit Kinderwagen auf dem Gehweg Platz mache, ist sie schon nicht mehr gleichberechtigt, die Omi, für die ich in der Stadtbahn aufstehe, auch nicht. Vollkommen gleich sind wir nun mal einfach nicht, das ist klar. Der große Unterschied ist aber: Es macht keinen Unterschied! Denn die Rechte, die Pflichten, die Vorteile und die Nachteile, die sollen für alle dieselben sein.

 

Trotz allem ein Grund zur Freude

In dieser Hinsicht wurde vor kurzem ein großer Schritt getan: Die Ehe für alle ist beschlossene Sache. Frotzelnd ausgedrückt könnte man auch sagen: Schwule und Lesben kommen endlich auch in den Genuss von sauteuren Scheidungen und Schlammschlachten vor Gericht, können mit ihren Autocorsos endlich genau so die Innenstadt verstopfen, dürfen sich schon im Vorfeld darüber fetzen, ob Tante Roswitha jetzt unbedingt eingeladen werden muss oder nicht und ob es als Aperitif schon Sekt gibt oder man wegen Onkel Werner lieber wartet mit Alkohol.

Aber mal im Ernst: Dieser Beschluss ist natürlich ein gewaltiger Grund zur Freude, natürlich ist es das. Allein für den Gedanken an diese Ewiggestrigen, die noch vor zwei Jahren in ganz Baden-Württemberg auf die Straße gingen, um gegen den Bildungsplan zu wettern. Wir erinnern uns: Der sah und sieht vor, dass Homosexualität fortan im Schulunterricht behandelt werden soll. Der Untergang des Abendlands für erschreckend viele Bewohner dieses schönen Bundeslands. Aber es wäre ja auch wirklich zu schrecklich, wenn vollkommen verunsicherte Kinder oder Teenager urplötzlich gesagt bekämen, dass rein gar nichts falsch bei ihnen läuft. Aber siehe da: Zwei Jahre später – und sie können heiraten wen auch immer sie wollen. 

Mehr als Glitzershorts und Engelsflügel

Dennoch hat die ganze Sache für viele Schwule und Lesben eine Kehrseite. Gewiss überwiegt die Freude über diesen Entschluss, dennoch scheint es vielen ein wenig zu sehr zum Wahlkampfthema gemacht worden zu sein. Auch für Jürgen Endres, der monatlich im Lehmann die Lovepop-Sause veranstaltet. "Für mich hat die CDU das schnell durchgeboxt, damit es kein Wahlkampfthema wird und dann vielleicht der SPD in die Karten spielt", meint er. Obwohl die Freude überwiegt: So denken nicht wenige Homosexuelle in Stuttgart.

Gefeiert wird dieser Beschluss trotzdem, besonders auf dem CSD, dessen Höhepunkt auch dieses Jahr die Parade am Samstag, den 29. Juli ist. Kleines Dilemma inmitten dieser farbenfrohen Regenbogenwelt: Insbesondere die schrillen Teilnehmer der CSD-Parade, die Paradiesvögel und freizügigen Menschen, gießen mit ihrer Extravaganz und dem betonten Anderssein fleißig Öl ins Feuer ihrer Gegner. Dabei sind sie in der krassen Minderzahl, betont Endres. "Meistens sind es aber eben gerade diese Paradiesvögel, die von der Presse hervorgehoben werden. Mich als stinknormalen Typen mit langem Bart", ist er sich sicher, "würde da niemand fotografieren. Da konzentriert man sich lieber auf den Kerl in Glitzershorts und mit Engelsflügeln." Dennoch muss festgehalten werden: Ein nackter Hintern allein ist kein Ausdruck einer politischen Botschaft.

Als die Pennys flogen

Das sieht auch der Stuttgarter CSD-Chef Christoph Michl so. Er sieht darin eher eine gewisse kulturhistorische Bewandtnis. "Die CSDs wurden in den Achtzigern und Neunzigern groß", blickt er zurück. "Damals musste ich mich noch verstecken, musste mich anmalen und verkleiden, um am nächsten Tag noch an meinen Arbeitsplatz zurückkehren zu können. Dieses historische Erbe", so Michl, "wollen wir hochhalten. Und wer war es denn, der 1969 in der Christopher Street in New York anfing, Pennys auf Polizisten zu werfen? Die Drag-Queens, die den Mut hatten, in ihrer Verkleidung Grenzen zu überschreiten. Deswegen werden wir diese Seite des CSD nicht zurückschrauben, weil wir sonst unsere Geschichte ein Stück weit verraten würden." Eine gewisse Schwierigkeit bleibt aber eben doch zurück: Man geht für Gleichberechtigung auf die Straße - und fordert diese mit einem Ausdruck der Andersartigkeit. Lovepop-Papa Endres sieht darin kein Problem: "Solange wir von der Gesellschaft als Randgruppe wahrgenommen werden, müssen wir medienwirksam protestieren und feiern, bis es für alle normal geworden ist."

Käse aus Hirnen

Das wird leider noch dauern. "38 Prozent der Menschen hier finden es immer noch seltsam, wenn gleichgeschlechtliche Paare Händchen halten", so Michl, "18 Prozent finden es eklig. Das ist schon eine Ansage." Die Eheöffnung sei deswegen ein wichtiger Meilenstein. "Aber sie ist nicht das Ende der Fahnenstange.“ Endres, der auch am Samstag wieder mit seinem kunterbunten Lovepop-Truck durch die Stadt zieht, nickt zustimmend. "Ich habe sogar den Eindruck, dass wir uns teilweise wieder rückwärts bewegen. Kids benutzen "schwul" oder "Schwuchtel" als Schimpfwörter, einige deutsche Hip-Hopper tun da ihr Übriges. Es gibt noch viel zu tun, bis wir den Käse aus vielen Hirnen entfernt haben.“ Fangen wir doch am Samstag gleich damit an.