Renate H., die Ehefrau des Parkplatzmörders, glaubt, ihren Mann zu kennen – bis die Polizei ihn verhaftet. Ihre Ehe war eine Lüge.  

Stuttgart - Vor einem Jahr hat es der Frau die Sprache verschlagen. Seitdem ringt sie um jedes Wort. Schon das Zuhören schmerzt, wenn Renate H. mit heiserer Stimme, oft kaum mehr als ein scharfes Flüstern, erzählt: von dem Vierteljahrhundert, in dem sie Tisch und Bett mit dem mutmaßlichen Parkplatzmörder teilte. Sie will, sie muss es sich von der Seele reden. Was kümmern sie da Stimmbänder?

 

Renate H. ist die Ehefrau von Detlef S., dem ehemaligen Postbeamten, der sich seit August wegen zwei Morden und einem Mordversuch vor dem Landgericht Stuttgart verantworten muss. Im Frühsommer 2010 soll er den jungen Vater Heiko S., 30 Jahre, und den 70-jährigen Rentner Hans L. auf Parkplätzen, die als Schwulentreffs gelten, von hinten in den Kopf geschossen haben. Einem belgischen Touristen gelang in Freudenstadt die Flucht. Das Urteil über Detlef S. werden die Richter voraussichtlich im Januar sprechen. Das der Öffentlichkeit steht längst. Und das über Renate H. auch, sagt sie: "Ich bin für alle nur die Frau des Mörders."

Solche Verbrechen fordern viele Opfer: die Getöteten und ihre Angehörigen, die mit dem Verlust weiterleben. Aber auch die Angehörigen des Täters, deren Leben in Trümmer fällt.

"Ich dachte, das wäre eine Verwechslung"

Renate H. gehen die Haare aus, ihre Stimme ist seit Wochen weg. Die Ärzte finden nichts. Sie sagen, ihre Seele brauche Ruhe. Doch das Mitgefühl ist in solchen Fällen oft klar verteilt. Es gilt den Toten und ihren Familien. Aber die "Frau des Mörders"? Hätte die nicht etwas ahnen können? Wissen müssen? Was wäre wenn. Es ist ein Leben im Konjunktiv, das sich dumpf anfühlt, als wäre man in Watte gepackt. "Ich konnte das gar nicht glauben. Ich dachte, das wäre eine Verwechslung."

Vor 25 Jahren lernte sie Detlef S., Anfang 30, schlank, immer gepflegt gekleidet und frisch rasiert, in einer Bar kennen. Er war damals noch verheiratet. "Trotzdem war es für ihn Liebe auf den ersten Blick. Dabei wollte ich ihn zuerst gar nicht", sagt sie. Doch der charmante junge Kerl blieb hartnäckig. Er holte sie am Flughafen vom Urlaubsflieger ab, machte ihr Komplimente, Geschenke, er umgarnte sie, bis sie nachgab. Als sie sechs Jahre später heirateten, war es für Renate H. die dritte Ehe. "Wir waren glücklich."

Ihr Leben war eine Lüge

18 Jahre später, im Dezember 2010, stürmt ein Sondereinsatzkommando der Polizei die Dachgeschosswohnung mit Blick auf die Burg in Esslingen. Die bleigefassten Kristallleuchter, die lebensgroßen Porzellanhasen auf dem Esstisch, die ausgestopfte Katze im Wohnzimmer, die voll gestopften Schubladen der Holzschränkchen - die Beamten nehmen alles auseinander. Detlef S. sitzt da schon gefesselt im Kastenwagen. Renate H. erfährt an diesem Tag, dass ihr Leben eine Lüge war. "Warum hat er das getan?" Ob der Aidskranke sich wahllos an Homosexuellen für seine Infektion rächen wollte? "Ich weiß es nicht."

Ihre nackten Füße stecken in Lederslippern, um die Schultern trägt sie jedoch eine dicke Strickjacke. Es ist kalt bei Renate H. Sie heizt nicht, bald muss sie aus der Wohnung raus, die zu groß und zu teuer ist, wenn mit dem Urteilsspruch die 1600 Euro Pension ihres Mannes wegfallen. Der Flur steht voller Kisten: Möbel, Klamotten, Bilder, ein Leben verstaut und fertig zum Abtransport. Mit dem, was sie dafür auf Flohmärkten verdient, komme sie gerade so über die Runden, sagt sie. Die Prada-Brille stammt noch aus besseren Zeiten, als sie als selbstständige Lederwarenverkäuferin gut verdiente. 80.000 Euro Erspartes, das geerbte Haus, fast ihr ganzer Schmuck, ist weg. "Mein Mann hat 350.000 Euro verjubelt." Es ging drauf für teure Uhren, den 7er-BMW und andere Eskapaden.

"Mein Mann war ein Blender. Er hat sich immer größer gemacht, auch vor mir", sagt Renate H. über den Mann, der auf jedem Schnappschuss gut gelaunt in die Kamera lacht. Mit dem sauber manikürten Zeigefinger tippt sie auf das Bild des fröhlichen Sonnenbadenden: "Das war in unserem letzten Urlaub am Mittelmeer." Die Kreuzfahrt hatte er ihr zum Geburtstag geschenkt, Mitte Mai 2010, eine Woche nach dem Mord an Heiko S. an einer Landstraße bei Böblingen. Händchenhaltend war das Paar damals durch Palma de Mallorca geschlendert, wie frisch verliebt. "Er war wie immer damals", sagt Renate H. "Wie hätte ich etwas ahnen können?"

Verdrängung ist manchmal bequemer als die Wahrheit

Und doch: es gab Anhaltspunkte dafür, dass die schöne heile Welt nur Illusion war. Welcher Mann rast nachts stundenlang über Deutschlands Autobahnen, um sich von seinem hohen Blutdruck abzulenken, wie Detlef S. sagte? Er hortete Penisringe in der Schreibtischschublade, rasierte sich am ganzen Körper, trug viel zu kleine Unterwäsche, lebte im ehelichen Schlafzimmer aber seit vielen Jahren enthaltsam.

Verdrängung ist manchmal bequemer als die Wahrheit. Und vielleicht stellt sich im Trott eines Alltags, der immer um dieselben zwei Personen kreist, auch Gleichmut ein. Wie viele Paare leben nebeneinanderher, ohne dass der Partner gleich ein Doppelleben führt. "Mir kamen schon manche Sachen seltsam vor", sagt Renate H. Es sind erste leise Worte der Selbstkritik. "Aber immer, wenn ich ihn auf etwas angesprochen habe, hat er seinen Koffer vom Schrank geholt und gedroht, mich zu verlassen."

Alleinsein - etwas Schlimmeres kann sich die Frau, die seit ihrer frühen Jugend pausenlos in Beziehungen lebte, nicht vorstellen. So große Angst hatte sie davor, dass sie selbst noch zu Detlef S. stand, als sie schon nicht mehr an dessen Unschuld glaubte. Dies änderte sich erst im Laufe des Prozesses, als sie von seinen jahrelangen Affären zu Arbeitskolleginnen und Internetbekanntschaften erfuhr und von seinen homosexuellen Neigungen. Zumindest nannten ihn der Besitzer eines Schwulenpornokinos in Bad Cannstatt und eine Augenzeugin des Strichs vor der Staatsgalerie Stammgast. "Vielleicht war das mein größter Fehler", sagt Renate H. "Dass ich nicht hartnäckig genug war."

Noch ist das Kapitel nicht abgehakt

Vor vier Wochen war sie zuletzt bei ihm im Gefängnis. "Ab jetzt komme ich nicht mehr", hat sie ihm zum Abschied gesagt.

Zu Hause, in ihrem kalten Wohnzimmer, hat sie den Stapel Urlaubsfotos ganz unten aus der Schublade hervorgekramt. Alle Bilderrahmen, in denen Fotos von Detlef S. stecken, sind abgedeckt. Irgendwann wird sie auch die einmotten und sich wünschen, mit ihnen alles Schlechte wegschließen zu können, die eigene Not, die der Fremden. "Natürlich habe ich Mitleid mit den Angehörigen", sagt sie, auch wenn sie den Kontakt nie suchte und auf den Gerichtsfluren sogar mied. Aus Selbstschutz, wie sie sagt. "Das sind die Taten meines Mannes, nicht meine." Es klingt, als müsse sie sich darin bestärken.

Das kostet Kraft. Renate H. wirkt müde. Die vielen Antworten und die noch größere Zahl von Fragen, die sie sich selbst stellt, erschöpfen. Sie spricht nur noch mit wenigen darüber, aber wenn, dann ganz offen, ohne Scheu oder Scham. "Was habe ich schon zu verlieren?"

Weihnachten wird sie in einer psychiatrischen Klinik verbringen

Sie packt alles aus, auch den dicken Leitz-Ordner, rappelvoll mit den seitenlangen Briefen, mit denen Detlef S. sich in der Haft seine Nöte von der Seele schreibt. Mit Liebesschwüren endet jeder: "Engelchen, ich liebe Dich, Du bist das Einzige, was ich habe." Zwei Mal wollte Detlef S. sich in der Haft das Leben nehmen. Mittlerweile ist er für sich selbst eine größere Gefahr als für andere. Er wird auch nachts bewacht und muss ans Bett gefesselt schlafen. "Dieser ganze Mist", sagt Renate H. und blättert dabei durch Hunderte von Briefbögen. "Ich sollte das eigentlich wegwerfen." Aber noch ist das Kapitel nicht abgehakt.

Die nächsten Wochen wird sie in einer psychiatrischen Klinik verbringen, auch über Weihnachten. Ihre Familie, die Kinder aus einer früheren Ehe, die Enkel haben sich von ihr abgewandt. Auch wenn sie Renate H. nicht der Mitwisserschaft bezichtigen, bleibt der Vorwurf, mit geschlossenen Augen durch die Welt gestolpert zu sein - dass sie schon im Vorhinein klüger hätte sein können.

Was fängt man mit dem Leben an, das in Scherben vor einem liegt? "Ich sehe für mich keine Perspektive", sagt die 64-Jährige. "Ich bin total am Ende. Meine Kraft ist aufgebraucht."