Roland Hellmann ist 86 Jahre alt, er wurde als kleiner Junge aus seiner Heimat im Sudetenland vertrieben. Heute gibt der Diplom-Dolmetscher Deutschkurse für Flüchtlinge, weil er findet, dass ohne Sprache alles nichts ist.

Bietigheim-Bissingen - „Das ist aber sehr gut heute“, sagt Roland Hellmann, während er mit dem Rotstift über das Blatt Papier hinwegfegt. Er korrigiert gerade in der Realschule im Aurain einen Text von Rawan Hadidi, einem 13-jährigen syrischen Mädchen, das seit einem Jahr in Bietigheim-Bissingen lebt. Und seit einem Jahr gibt Hellmann ehrenamtlich Deutschunterricht für Flüchtlinge, die in sogenannten Vorbereitungsklassen fit für den Schulalltag gemacht werden sollen. Rawan und ihre Freundin Dalaa gehören schon zu den Fortgeschrittenen. „Die häufigsten Fehler sind die Großbuchstaben und die Umlaute“, sagt Hellmann.

 

Nun wäre Hellmanns Geschichte keine besondere ohne seine eigene Biografie. Denn Menschen, die sich für Flüchtlinge engagieren, gibt es viele. Bei Hellmann ist das Engagement aber eng an seine Erfahrungen geknüpft. Der Senior ist selbst ein Geflüchteter – wobei er Wert darauf legt, dass er kein Flüchtling, sondern ein Vertriebener ist: „Wer flüchtet, entscheidet sich selbst dafür. Wir wurden von russischen Soldaten gezwungen, unsere Heimat zu verlassen.“

Eine halbe Stunde Zeit, maximal 20 Kilo Gepäck

Der 86-Jährige erinnert sich noch genau: Am 27. Juni 1945 standen Soldaten mit Maschinenpistolen vor dem Haus in Würbenthal im Ostsudetenland in Tschechien. Eine halbe Stunde gaben sie Zeit zum Packen, maximal 20 Kilo. „Damit war meine Vergangenheit besiegelt“, erzählt Hellmann. Sein Vater war Schuhfabrikant und beschäftigte 30 Mitarbeiter. Statt im väterlichen Betrieb einzusteigen, musste der junge Roland Hellmann von seiner Familie getrennt als Pferdeknecht in einem Arbeitslager schuften. „Da hat man uns die tschechische Sprache regelrecht eingeprügelt“, erzählt er. Weil er bis dato nur Deutsch sprechen konnte, habe es zu Beginn „null Verständigung“ gegeben. „Die Tschechen dachten, wir wollten sie nicht verstehen, und waren daher besonders bösartig zu uns“, sagt Hellmann.

Damals fasste Hellmann einen Beschluss, der sein ganzes Leben prägen sollte: „Ich habe mir vorgenommen, nie wieder sprachlos zu sein. Egal wo ich bin, ich wollte mich verständigen können“, sagt er. Als er mit seiner Familie nach Deutschland kam, lernte er Englisch und Französisch am Gymnasium. Im Jahr 1952 begann er ein Studium als Übersetzer und Diplom-Dolmetscher in Mainz, machte eine Kaufmannslehre und arbeitete später für mehrere Pharma- und Chemiekonzerne in der Außenhandelsabteilung.

Paris, Südamerika, Mittlerer Osten: Hellmann kam beruflich viel rum

Nach Bietigheim gelangte Hellmann 1960, als der Bodenbelaghersteller DLW einen Assistenten für den Exportleiter suchte. Fortan arbeitete Hellmann auf der ganzen Welt: Paris, Südamerika, Mittlerer Osten. „Die Fremdsprachen waren für mich das Vehikel der Kommunikation“, sagt er. Heutzutage sei das Beherrschen von Fremdsprachen „wichtiger denn je“. Seine Kinder sind dreisprachig erzogen.

Hellmanns Geschichte ist inzwischen auch in einem Buch festgehalten: In einem Geschichtsprojekt der Realschule Aurain und der aktiven Senioren Bietigheim sammelten Schüler Geschichten von Geflohenen und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg. Und auch in der aktuellen Ausstellung der Städtischen Galerie in Bietigheim-Bissingen „Was ich mit mir trage...“, in der es um Gepäckstücke und deren Geschichte auf der Flucht geht, sind Hellmanns Erlebnisse Bestandteil.

Viel Verständnis für andere Kulturkreise

Roland Hellmann ist überzeugter Europäer. Auch zu Angela Merkels Satz „Wir schaffen das“ steht er. „Ich bin erstaunt darüber, mit welcher Intensität und Energie die Flüchtlinge an ihre Lage rangehen und wie integrationswillig sind“, sagt er.

Integrationsunwillige Geflüchtete seien ihm noch nicht begegnet. Hellmann ist überzeugt: „Deutschland braucht die Flüchtlinge, wir sind ein alterndes Volk.“ Durch seine Erfahrungen in seiner Jugend und im Beruf bringe er ein hohes Verständnis für die Eigenheiten anderer Kulturkreise mit: „Integration bedeutet Toleranz, und auch Geduld.“