Stefan Burgel wuchs wohlbehütet in Backnang auf. Heute arbeitet er im Hort einer Berliner Brennpunktschule und kümmert sich auch in der Freizeit um die Kinder aus kaputten Familien.

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)

Backnang/Berlin - Dieser Bart! Oh nein. Unmöglich. Kopfschütteln. „Stefan, du siehst ungepflegt aus“, sagt ein Mädchen, neun Jahre alt, und legt die Stirn in Falten. An diesem Samstag in Berlin-Hellersdorf wird Stefans Bart noch oft zum Thema. Die Kinder und die Jugendlichen, die in diesem Problembezirk im tiefen Osten der Bundeshauptstadt leben, kennen ihren Stefan eben nur glatt rasiert. Und jetzt das. „Stefan, du siehst echt scheiße aus.“ Ein Junge sagt gerade heraus, was er von der neuen Gesichtsbehaarung des ehrenamtlichen Sozialarbeiters hält.

 

Jeden Samstag gegen Mittag zieht Stefan Burgel, 32, los. Auch an diesem schönen Frühlingstag ist er mit seinem überladenen Handkarren und einem riesigen Rucksack bepackt. Er schleppt Essen, Getränke und Spielzeug zum Abenteuerspielplatz. Burgel hat Äpfel und Bananen dabei, zwei Zwanzig-Liter-Kanister mit Wasser sowie Kuchen und ein paar Tüten mit Keksen, die eine Freundin seiner Mutter daheim in Backnang gebacken hat. „Für dich und deine Kinder“ stand auf dem Päckchen, das vor ein paar Tagen in Hellersdorf ankam.

Punkt 13 Uhr startet Stefan Burgel. Meistens wird er von ein paar Kindern aus dem Kiez abgeholt. An diesem Tag klingelt der Junge, der Burgels Bart „echt scheiße“ findet, mit seiner Schwester an Burgels Wohnungstüre in einem alten Plattenbau. Der Fußmarsch bis zum Spielplatz dauert gut eine viertel Stunde, alle paar Schritte warten neue Kinder und reihen sich dann ein in die Prozession in Richtung sinnvolle Freizeitgestaltung.

Burgel begrüßt seine Schützlinge namentlich, manche auch mit Handschlag. Er erkundigt sich: „Na, wie geht’s?“ Die Hellersdorfer Kinder haben längst Vertrauen gefasst zu ihrem Stefan. Manche sind erst vier, fünf Jahre alt und ganz alleine unterwegs auf den Straßen zwischen grauen, trostlosen Fassaden, die nichts mit der mondänen Berliner Mitte rund um das Brandenburger Tor gemein haben.

Stress daheim

Die Kinder erzählen von ihrem Stress daheim mit der Mutter, mit dem Stiefvater, von der Schule, von was auch immer. Ein Mädchen sagt: „Wetten, dass der Papa seine neue Freundin mit dem kleinen Kind auch bald wieder rauswirft?“

Am Spielplatz stürzen sich einige Kinder sofort auf die Tüten mit dem Obst und dem Kuchen. Nach dem Essen beginnt die erste Spielrunde – Familienfange. Eine Gruppe trägt grüne Bänder, die andere blaue. Die einen müssen eine Fahne verstecken, die andere müssen sie suchen und erbeuten. Die Kinder, die sonst ohne Betreuung meistens nur vor den Läden herumlungern, sind voll bei der Sache. Burgel weiß nie, ob eine Handvoll Kids kommen oder ein paar Dutzend. Im Winter sind es eher wenige, im Sommer kommen manchmal mehr als 50 Jungs und Mädchen.

Es ist purer Zufall, dass Stefan Burgel aus dem beschaulichen Backnang in Berlin-Hellerdorf gelandet ist. Er hatte in Marburg eine Doppelausbildung zum Erzieher und Jugendreferenten gemacht, fand anschließend einen Praktikumsplatz bei der Berliner Arche. Die Mitarbeiter des Arche-Projekts kümmern sich um Kinder aus zerrütteten Familien, verteilen Essen – und ein bisschen Lebenswärme. Nur wenige Wochen nach seiner Ankunft im Osten Berlins ist Stefan Burgel von drei Mädchen angesprochen worden. Sie lebten in der Wohnung unter ihm und gehörten zu einer 15-köpfigen Familiengemeinschaft: zwei Erwachsene, elf Kinder, darunter eine 15-Jährige mit ihrem einjährigen Baby und ihrem Freund.

Die drei Schwestern fragten den zugezogenen Schwaben: „Spielst du mit uns?“ Burgel erzählt, dass ihm die Situation zwar unangenehm gewesen sei, dass er die Mädchen aber auch nicht habe stehen lassen wollen. Also bestand er darauf, dass sie ihre Eltern fragten, ob sie denn überhaupt mit einem unbekannten Mann spielen dürften. Als die Mutter über die Gegensprechanlage des Wohnblocks die Frage sofort und mit knappsten Worten – „Okay, geht mit“ – beantwortete, nahm die Sache ihren Lauf.

Durstige Kinder

Burgel hatte schon mehrfach beobachtet, dass es in Hellersdorf Kinder gibt, die im Müll nach Pfandflaschen wühlen, die mit ihren Fingern an regennassen Bänken entlanggleiten, um das Wasser zu sammeln und zu trinken. „Sie haben Durst“, sagt Burgel, der wohlbehütet aufgewachsen ist.

Die drei Geschwister passten Stefan Burgel fortan immer wieder nach der Arbeit ab und unternahmen mit ihm „Hoftouren“, so nannten sie die Rundgänge durch die Hinterhöfe in Hellersdorf. Sie waren überrascht, dass sich ein Erwachsener in seiner Freizeit mit ihnen beschäftigte, überrascht und dankbar. Mit der Zeit lernte Burgel immer mehr Kinder kennen, die sich tagsüber weitgehend selbst überlassen sind, deren Eltern keine Lust oder keine Energie haben, sich um sie zu kümmern.

Burgel hörte Geschichten, die ihn schockierten. Zum Beispiel jene von dem achtjährigen Mädchen, das von seinem Vater missbraucht wurde. Das Opfer vertraute sich einer Lehrerin an, der Stein kam ins Rollen und der Vater ins Gefängnis. Die Mutter, erzählt Burgel, habe ihm erklärt: „Meine Tochter ist selbst schuld.“ Im Kiez sprach sich schnell herum, dass es da diesen Mann gibt, der sich kümmert, der hilft. Auch bei Problemen mit der Schule oder mit den Ämtern. „Plötzlich kannten mich alle und rechneten fest mit mir.“

Nach dem Praktikum fand Stefan Burgel eine Stelle in einer Kindertagesstätte. „Ich hatte oft früh Feierabend und war irgendwann fast täglich nach der Arbeit draußen bei den Kids.“ Er kaufte Lebensmittel, verteilte sie. Doch sie reichten nicht, weil immer neue Kinder hinzukamen. „Da wurde mir klar, dass ich die Arbeit professionalisieren muss“, sagt er. Also beschloss er, mit seiner freikirchlichen Gemeinde den Verein für Überlebenskünstler zu gründen.

Spross einer schwäbischen Unternehmerfamilie

Burgels Weg in die Sozialarbeit war nicht vorgezeichnet. Er ist der Urenkel des Backnanger Unternehmers Richard Burgel. Dieser hatte anno 1924 in der Murrstadt das Traditionsgeschäft Burgel gegründet. Stefan Burgel hat nach der mittleren Reife in dem Radio- und Elektrogeschäft, das damals sein Großvater leitete, eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann gemacht. Direkt im Anschluss daran ging er auf das Bibelseminar nach Marburg, wurde Erzieher und Jugendreferent. Und jetzt scheint er an dem Ort angekommen zu sein, wo man ihn am meisten braucht – in Berlin-Hellersdorf mit seinen Problemkindern aus kaputten Familien. Burgel hört ihnen zu und versucht, ihnen so gut wie möglich zu helfen. Sie erzählen ihm, dass sie nachts wieder ausgesperrt wurden, im Hausflur schlafen mussten und von dort aus am Morgen in die Schule gingen. Er erfährt, dass sich in manchen Wohnungen der Müll türmt. Er weiß, dass in diesem Viertel fast alle Eltern getrennt leben. Viele Kinder stellen ihr Zuhause auch besser dar, als es in Wirklichkeit ist. Wer gibt schon gern zu, wenn er mal wieder im Keller pennen musste? Häufig telefoniert Burgel mit dem Kindernotdienst, der Anlaufstelle für geschundene Mädchen und Jungen.

Was bringt das Ganze? Ändert sich so etwas an dem Elend? Natürlich reiche das ehrenamtliche Engagement nicht aus, antwortet Burgel. Aber immerhin könne er kleine Erfolge beobachten: Die Kinder lernten an den Samstagen auf dem Spielplatz „Umgangsformen und Strategien zur Konfliktbewältigung“. Burgel sagt aber auch, dass der Streetworker, der noch vor zwei Jahren regelmäßig in Hellerdorf unterwegs war, „inzwischen wohl in der Bürokratie versunken“ sei. Er habe ihn jedenfalls schon lange nicht mehr gesehen.

Eine Kugel Vanille als Anreiz

Ein Junge kommt angerannt und sagt wie aus dem Nichts: „Ich war vier Tage lang im Krankenhaus.“ „Warum?“, fragt Burgel. „Weiß ich auch nicht.“ Nächstes Kind: „Stefan, hast du deinen Bart beim Aldi gekauft? Für 2,99 Euro?“ Breites Grinsen und weg. Einer schreit: „Stefan, ich hänge mich auf.“ „Bitte nicht“, sagt Stefan Burgel. Ein kleines Mädchen schaut bei ihm vorbei, sie sagt: „Ich habe Hunger.“ Der Junge, der Burgels Bart „echt scheiße“ findet, ruft: „Ich bin Hitler!“ Dann rülpst er laut.

Der Eiswagen hält am Spielplatz. Alle Kinder, deren Eltern Burgels Informationsbogen ausgefüllt haben, bekommen eine Kugel Vanille, Erdbeere oder Schokolade. „Das ist ein Anreiz für alle, ihre Mütter oder Väter zu überreden, ein paar Auskünfte zu erteilen.“ Die ehrenamtlichen Betreuer wollen gerne mehr über die Familien wissen, etwa ob sie Hilfe benötigen.

Gegen 19 Uhr sammelt Stefan Burgel die Trinkbecher ein, auf denen die Kinder ihre Namen geschrieben haben. Daheim wird er die 43 Kindernamen in eine Excel-Tabelle eintragen. „Wir müssen unbedingt noch professioneller werden“, sagt Burgel. Er würde gerne zumindest einen hauptamtlichen Mitarbeiter beschäftigen, sein Verein für Hellersdorfer Straßenkinder müsse wachsen. Die Kinder würden jetzt vermutlich einwerfen: Stefans Bart aber nicht.