Michael Schützenberger ist eigentlich ein Stadtmensch. Nun zog der Bildhauer auf einen Bauernhof im Rems-Murr-Kreis. Über die Kunst, auf dem Land zu leben.

Berglen - Das, was einmal der Kopf von Gustav Mahler werden soll, erinnert an die Spitze eines Eisbergs. Mannshoher Marmor, zwei Tonnen schwer. Seit Monaten liegt der Brocken zwischen Skulpturen und Europaletten im Hof von Michael Schützenberger. Er wird hier sicher noch weitere Monate liegen, denn die Hände, die ihn formen könnten, sind anderweitig beschäftigt: Fenster müssen erneuert und Türen gedämmt werden. Dach und Abflussrohre sind an einigen Stellen undicht. Im Wohnhaus klaffen Risse in den Wänden wie nach einem Erdbeben. Es gibt noch kein Wasserklosett.

 

Zu den Pflichtübungen gesellen sich unerwartete Zwischenfälle. Wie der Fensterladen, den der Sturm eines nachts um ein Haar von der Fassade gepflückt hätte. Schützenberger, 54, kam gerade von einem Künstlertreffen in Südtirol zurück, als er ihn in der ersten Etage an nur einer Angel baumeln sah – und drehte sich erst mal eine Zigarette. „Ich brauch’ eh neue Fenster“, sagt er mit knarzendem Bass und in schönstem Wienerisch. Eigentlich bringt den Bildhauer nichts so schnell aus der Fassung.

Aber der Bauernhof in Streich im Rems-Murr-Kreis, der ihm seit ein paar Monaten als Atelier dient, hätte das Potenzial dazu. Vor allem, wenn mal wieder aus einem Problem drei werden wie beim Kopf der Hydra. Neulich wollte er eine Tür aufschließen, prompt brach der Schlüssel ab. „Schon muss man ein ganzes Schloss auswechseln“, klagt Schützenberger.

Eine Bibliothek in Bananenkisten

Wann wird er sich wieder ganz der Kunst widmen können? „Ich weiß es nicht“, sagt er und öffnet die Tür zum ehemaligen Kuhstall, wo seine Arbeiten im Halbdunkel lagern. Aus rotem Sandstein: der triebhafte Minotaurus, halb Mensch, halb Stier, Schulter an Schulter mit Orpheus, dem Allzumenschlichen. Hermes der Götterbote, gelber Sandstein. An der Wand lehnen, aus Eisen geschweißt, riesenhafte Fledermausflügel. Rund 300 Werke sind hier untergebracht. „Meine Kinder“, sagt Schützenberger. „Leider kommen sie hier nicht so richtig zur Geltung.“

Er öffnet die Tür zur geräumigen Scheune, in der er abends am liebsten ein paar Weinflaschen aufreiht und zu Lesung oder Konzert lädt. Manchmal steht er dann selbst auf der Bühne, begleitet von seiner Lebensgefährtin Doina Apostol am Klavier: Lieder von Georg Kreisler. Wenn die Gäste Lust haben, wirft er später noch den Beamer an und zeigt Filme, deren Bilder zu schön sind für das Fernsehformat. Zum Beispiel „Das Kabinett des Dr. Parnassus“. Ein Stockwerk darüber, unter dem Dach des alten Kornschobers, lagert seine Bibliothek in 120 Bananenkisten. Sortiert und beschriftet. Und draußen im alten Hühnerstall stehen die Figuren seiner Werkstattbesucher. Zwei Mal pro Woche kommen Berufstätige und Pensionäre, formen eine Skulptur oder bauen ein Möbelstück. „Die Leute wollen etwas mit den eigenen Händen schaffen“, sagt Schützenberger. „Ich helfe ihnen dabei.“

Streich, das Dorf, in dem Michael Schützenberger der Kunst ein Zuhause geschenkt hat, zählt etwa 200 Einwohner. Ein einziger von ihnen lebt von der Landwirtschaft, der Rest pendelt zum Job in der Stadt. Der letzte Dorfladen hat vor Jahren dichtgemacht. Dafür gibt es einen Feuerwehrschuppen, in dem eine Glocke einen gnadenlosen Takt schlägt: Alle fünfzehn Minuten läutet sie weithin hörbar, als wollte sie das Dorf daran erinnern, dass die Zeit noch nicht stehen geblieben ist. Der Schuppen steht direkt neben Schützenbergers Hof. Die Glocke läutet auch nachts.

Von der Fabrik auf den Bauernhof

Außerdem gibt es einen Bus pro Stunde, einen Metzger und – immerhin – fünf Brennereien. Und sicher hätte jeder im Ort eine Flasche Obstler gesetzt, dass der alte Hof im Alpenweg 3 auch bald fallen würde wie schon so viele vor ihm. Der letzte Bauer hat 2007 die Gabel ins Heu geworfen. Seither hat nur die Witterung an dem Anwesen gearbeitet. Dann kam der Künstler, wenn auch nicht ganz freiwillig.

Vierzehn Jahre lang hatte Michael Schützenberger in einer leeren Fabrik direkt vor den Toren der Landesmetropole Stuttgart gearbeitet. Schon als er einzog, hieß es, das Klinkermonstrum werde irgendwann eingestampft. Anfang 2013 war es so weit. Bagger fuhren vor, Abrissbirnen flogen durch die Wände. Schützenberger musste umziehen. Nur: wohin? Eigentlich sei Stuttgart ein guter Ort für Künstler, findet er, weil es Menschen gebe, die sich für Kunst interessieren, und sogar welche, die Kunst kaufen. „Aber wenn man Bildhauer ist und ein Atelier sucht, hat man ein Problem.“

Künstler wie Michael Schützenberger hocken nicht mit Stift und Block im Kämmerlein, sondern stehen mit Schweißbrenner und Motorsäge in der Werkstatt. Sie ziehen ihr Material nicht aus einer Schublade, sondern fahren es mit dem Hubwagen durch die Gegend und hieven es mit dem Lastenzug auf Anhänger. Ihr Schaffen ist immer auch ein Schuften. Es braucht mehr Platz als eine Kfz-Werkstatt, wirft aber weniger ab. „Ein Bildhauer will etwas schaffen, das die Zeit überdauert“, sagt Michael Schützenberger. Und so kann Stuttgart wegen der hohen Immobilienpreise doch wieder zum ungeeigneten Ort für Künstler werden.

Schützenberg ist eigentlich ein Stadtmensch

Schließlich meldete sich Schützenbergers Schwester: Sie habe einen Bauernhof in dem winzigen Flecken Streich gefunden. Schützenberger muss schmunzeln, wenn er das erzählt. Er hat in Stuttgart, Wien und Paris studiert. Er liebt Oper und Theater, Cafés, Kneipen. Er ist ein Stadtmensch, wollte immer zurück nach Wien, in die alte Heimat, die die Eltern verließen, als er sechs Jahre alt war. Den Dialekt hütet er fast ein halbes Jahrhundert später wie einen Schatz. Und jetzt: ein Bauernhof. Doch Schützenberger ist keiner, der lamentiert. Er sah sich den Hof an. Der Keller schien in Ordnung. Die Dachbalken auch. Ein paar Wochen noch, und die Abrissbirnen hätten sein Atelier auf dem alten Fabrikgelände erreicht. Er unterschrieb. Sein Professor Alfred Hrdlicka hatte einst gesagt: „Die Bildhauerei ist in erster Linie ein Transport- und Lagerproblem.“ Drei Monate, 35 Möbelwagen und zwei Sattelschlepper später wusste Schützenberger genau, was Hrdlicka meinte – und Streich hatte sein erstes Atelier samt Veranstaltungssaal in der Scheune.

Die Glocke im Feuerwehrschuppen schlägt halb drei, als Rosa im Hof steht. Die alte Bäuerin verschwindet fast in ihrem blauen Arbeitskittel, aber unter ihrer Schirmmütze funkeln hellwache Augen. „Die Rosa“, sagt Schützenberger. „Schön! Magst einen Wein?“ – „Aber gerne“, sagt Rosa, und als sie das Glas in der Hand hält: „Sag mal, Schützenberger, dieser Kopf da.“ Sie deutet auf eine Holzbüste, die auf einem Sockel thront. „Steht der bei jedem Wetter draußen?“ Schützenberger nickt: „Ist Eiche.“ Dann, erwidert Rosa, sei der Regen kein Problem. „Aber die Sonne vielleicht. Du solltest den mit Leinöl einreiben. Soll ich dir welches bringen?“ – „Dank dir“, sagt Michael Schützenberger. „Leinöl ist eine gute Idee. Aber ich habe welches.“

Als Rosa gegangen ist, kniet Schützenberger vor dem einzigen Ofen des Hauses und pustet in die Glut. „Irgendwie mag ich es archaisch“, sagt er, als das Zeitungspapier auflodert. Er kann nur einen Raum beheizen, in den übrigen herrscht von November bis März Weltraumkälte, doch Schützenberger kennt sich aus mit Minusgraden. In der alten Fabrik gab es auch keine Heizung, also hat er die letzten 14 Winter in Skiunterwäsche und mehreren Pullovern übereinander gearbeitet. „Ob Fabrik oder Land, die Abgeschiedenheit hat auch Vorteile“, sagt er. „Die Ablenkungen der Großstadt sind fern. Man kann ganz bei sich und dem Werk sein.“ Die Selbstgedrehte zwischen seinen Fingern ist erloschen. Er steckt sie wieder an und nimmt einen Zug. Als Maler hätte er vielleicht ein Problem, gibt er zu. „Wenn einem das Lapislazuli-Blau ausgeht, steht man blöd da.“ Er dagegen braucht Holz und Steine. „Und die gibt es hier nun mal.“

Draußen im Hof sprießt eine Wildrose hüfthoch aus einem Riss im Asphalt. Michael Schützenberger, eigentlich kein Freund von ungebetenem Grün, hat sie stehen lassen. Es imponiere ihm, dass sie an so einer unwirtlichen Stelle überlebt hat, sagt er. Ein paar Meter weiter liegt die Spitze des Eisbergs immer noch stumm. Eines Tages wird Schützenberger den Kopf von Gustav Mahler aus dem Marmor formen. Doch jetzt muss er Kupferrohre löten. „Für meine Wasser-Installation“, sagt er mit gespieltem Ernst. Es sind die Leitungen für sein Badezimmer.