Der Bürgermeister der niedersächsischen Gemeinde Schladen-Werla hat gegen den Widerstand der Etablierten die medizinische Versorgung in seiner Gemeinde selber organisiert – mit durchschlagendem Erfolg.

Berlin - Anruf bei Andreas Memmert in Schladen-Werla. „Telefon haben wir schon“, sagt Memmert lachend, „aber sonst sind wir hier tiefste Provinz.“ Das mit der Provinz meint der Bürgermeister von Schladen-Werla, einer 8900-Seelen-Gemeinde im östlichen Niedersachsen, kein bisschen abwertend. Im Gegenteil. Er habe, meint Memmert, den schönsten Beruf der Welt im schönsten Ort der Welt. Der Mann, keine Frage, ist Lokalpatriot durch und durch. Und so lag es ihm schwer auf der Seele, als Schladen-Werla im Herbst 2007 vor einem tiefen Einschnitt stand: Vier der fünf Ärzte am Ort fanden keine Nachfolger, einer musste aus gesundheitlichen Gründen seine Praxis schließen.

 

„Wir waren vor dem Kollaps“, sagt Memmert und betont, dass er nicht dramatisiere: „Denn wenn der Arzt geht, stirbt die Gemeinde“. Also machte sich der 53 Jahre alte Bürgermeister gemeinsam mit anderen ans Werk. Dabei kam ihm zugute, dass die Große Koalition 2007 das „Vertragsarztrechtänderungsgesetz“ (es heißt wirklich so) beschlossen hatte. Seither können sich Ärzte verschiedener Fachgruppen zusammentun und Zweigpraxen eröffnen. Auch ist Teilzeitarbeit eines Kassenarztes erlaubt. Diese Chance wollten zwei Ärzte aus Wolfenbüttel nutzen, um in Schladen eine Praxisgemeinschaft zu gründen.

Im leer stehenden Supermarkt arbeiten heute die Ärzte

Und diese „Ärztegemeinschaft Schladen“ (ÄGS) gibt es seit Herbst 2008 tatsächlich. Heute sind dort drei Allgemein- und zwei Augenärzte, drei Gynäkologen und zwei Hals-Nasen-Ohren-Mediziner tätig. Die Ärzte haben ihre Hauptpraxen in Salzgitter oder Wolfenbüttel, sind aber zu festen Sprechzeiten in Schladen. Dort legen sie die Kosten für Gemeinschaftsräume, Labor und Mitarbeiter um. Bis das Ärztezentrum am 23. November 2008 eröffnete, mussten die ÄGS-Initiatoren und Memmert allerdings viele Widerstände überwinden.

„Wenn wir in Deutschland nichts mehr haben: Bedenken haben wir immer“, zitiert der Bürgermeister den Schriftsteller Kurt Tucholsky. Dass in Schladen in den Räumen eines leer stehenden Supermarkts etwas Neues entstehen sollte, gefiel 15 Ärzten aus der Region so wenig, dass sie Widerspruch gegen die Praxisgemeinschaft einlegten. „Die hab ich dann alle eingeladen“, erzählt Memmert. Und auch wenn Memmert humorvoll und verbindlich ist, ahnt man, dass diese Veranstaltung keine Säusel-Runde war. „Es gab viele Widerstände“, sagt Memmert – und zwar auch von Seiten der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN), der es gar nicht gefallen habe, dass nun plötzlich ein Lokalpolitiker auf ihrer Domäne der ärztlichen Versorgung aktiv wurde. Diese Domäne heißt offiziell Sicherstellungsauftrag und bedeutet, dass die 17 regionalen Kassenärzte-Vereinigungen für die ambulante Versorgung zuständig sind. Das gelingt ihnen seit Langem zwar vielerorts nicht mehr gut. Trotzdem sieht es so mancher Funktionär bis heute als Macht- und Prestigeverlust, wenn plötzlich andere mitmischen wollen. Memmert ließ sich nicht schrecken, hielt engen Draht zu den beiden ÄGS-Pionieren und unterstützte sie nach Kräften. Als die Praxiseinrichtung eines HNO-Arztes vor der Eröffnung angeliefert wurde, stellte Memmert sie kurzerhand im Bauhof unter.

Der Ort wächst – entgegen der Prognose

So zupackend und pragmatisch wünschte man sich auch die Berliner Politik. Sie beklagt zwar pausenlos den Ärztemangel, bringt Reformen aber nur zaghaft und langsam voran. Das Vertragsarztrechtsänderungesetz etwa knüpfte die Gründung einer Filiale daran, dass sie die „ordnungsgemäße Versorgung der Versicherten“ am Hauptsitz nicht beeinträchtigt. Was „ordnungsgemäße Versorgung“ ausmacht: Darüber haben die 17 Kassenärzte-Vereinigungen im Zweifel 17 verschiedene Auffassungen. In Schladen klappte es mit den Zweigpraxen, andernorts aber nicht, weshalb Berlin 2012 im „GKV-Versorgungsstrukturgesetz“ (es heißt wirklich so) die Auflage mit der „ordnungsgemäßen Versorgung“ faktisch strich.

Um Schladens Zukunft, sagt Memmert, mache er sich keine Sorgen mehr. Früher hätten sämtliche Prognosen geunkt, dass der Ort bis 2030 um ein Drittel schrumpfen werde. Tatsächlich wächst Schladen. Früher habe das Standesamt jährlich etwa 50 Geburten eingetragen. „Jetzt wollen es die im Landratsamt immer nicht recht glauben, wenn ich die neuen Zahlen durchgebe“, sagt Memmert und lacht wieder sein fröhliches Lachen: „Letztes Jahr waren es 81 Geburten.“ Dass die Schladener seine Arbeit schätzen, haben sie bei der Bürgermeisterwahl 2013 zum Ausdruck gebracht. Von den 5557 Bürgern, die ihre Stimme abgaben, wählten 4393 Andreas Memmert. Gut möglich, dass künftig mehr Bürgermeister mit Erfolg die ärztliche Versorgung sichern und traumhafte Wahlergebnisse einfahren. Aktuell berät Berlin das „GKV-Versorgungsstärkungsgesetz“ (es heißt wirklich so), das Kommunen mehr Spielraum gibt. Herrscht bei ihnen ein Engpass in der Versorgung, können sie künftig als Eigen- oder Regiebetrieb ein „Medizinisches Versorgungszentrum“ gründen – und dabei sind Städte und Gemeinden nicht darauf angewiesen, dass die Kassenärztliche Vereinigung zustimmt.