Mit Demonstrationen in Kiew begann Ende November 2013 der Konflikt in der Ukraine, der sich zu einer Krise Europas und der Welt auswachsen sollte. Jeder hat dabei verloren, meint der StZ-Autor Christian Gottschalk in seinem Essay.

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Stuttgart - Nasskaltes Schmuddelwetter hatte sich in Kiew breitgemacht, als Mustafa Najem seine Nachricht schrieb. Er gehe nun zum Maidan, um zu protestieren, kündigte der Journalist auf Facebook an. „Wer kommt mit?“, lautete die Frage. An diesem 21. November 2013 waren es ein paar Dutzend, die es ihm gleichtaten. Sie demonstrierten auf dem Unabhängigkeitsplatz im Herzen der Stadt gegen die Entscheidung von Viktor Janukowitsch. Der ukrainische Präsident hatte gerade erklärt, dass er das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union lieber doch nicht unterschreiben wolle.

 

Es gibt historische Momente, die sind schon im Augenblick, da sie geschehen, als solche zu identifizieren. Der 9. November 1989 war so einer. Wer in die Gesichter der überglücklichen DDR-Bürger geschaut hat, die die zuvor unüberwindbare Grenze ganz einfach passierten, wer die ungläubig-fassungslosen Mienen der Grenzsoldaten gesehen hat, der wusste schon in jener Nacht vor 25 Jahren, dass etwas ganz Besonderes geschehen ist. Diejenigen, die sich vor einem Jahr in Kiew die Nacht um die Ohren schlugen, hatten keine Ahnung, dass sie den Beginn einer unglaublichen Entwicklung in Gang setzen sollten. 365 Tage und viele Tausend Tote nach dieser Novembernacht hat sich nicht nur die Ukraine verändert, sondern Europa gleich mit.

Natalie Udovenko gehört zu denen, die damals auf Facebook gelesen haben, dass man sich auf dem Maidan trifft. „In der ersten Nacht waren wir gar nicht so viele, dann mehr als tausend und dann immer mehr“, erinnert sich die junge Frau. Damals war Natalie Udovenko Innenarchitektin, auf dem Sprung, eine Arbeitsstelle in der Schweiz anzutreten. Heute sitzt sie in Kiew und koordiniert für die Nichtregierungsorganisation Vostok Hilfe und Unterstützung für Flüchtlinge aus dem Donbass. Fast eine Million Ukrainer sind auf der Flucht. Der Journalist Mustafa Najem ist seit dem 26. Oktober Abgeordneter im ukrainischen Parlament.

Vielleicht ist der traurige Höhepunkt noch nicht erreicht

Natalie Udovenko, Mustafa Najem und mit ihnen rund 45 Millionen Ukrainer haben ein Horrorjahr hinter sich. Alle zwei Wochen haben die Menschen aufs Neue gedacht, dass es nun nicht mehr schlimmer kommen könne. Sie wurden regelmäßig eines Schlechteren belehrt. Und selbst ein Jahr nach dem Beginn des Dramas steht noch immer nicht fest, ob der traurige Höhepunkt bereits erreicht ist oder ob er nicht doch erst noch bevorsteht.

Das geplatzte Abkommen mit der EU war nicht der Hauptgrund für die Proteste, es war vielmehr ein Auslöser, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Das Fass war schon vor den Protesten ziemlich voll. Bestechliche Polizisten, Professoren, Lehrer, Ärzte, Beamte, Richter und Staatsanwälte sind in der Ukraine eher die Regel denn die Ausnahme gewesen. Die Korruption in Wirtschaft und Politik war praktisch allgegenwärtig, und kaum jemand hat sie so beispielhaft verkörpert wie Präsident Viktor Janukowitsch und seine Familie.

Dessen Sohnemann ist eigentlich Zahnarzt, lässt zu diesem Zeitpunkt aber noch gewaltige Hotel-, und Bürokomplexe bauen und leitet die ukrainische Entwicklungsbank. Da kann man schon vermuten, dass auch der Papa Schwierigkeiten hat, Staats- und Privateigentum auseinanderzuhalten.

Als sie Viktor Janukowitsch schließlich zum Teufel gejagt hatten, da staunten die Ukrainer dann aber trotzdem nicht schlecht über den Luxus auf dem Herrensitz ihres Herrschers, über goldene Wasserhähne und mannshohe Elfenbeinskulpturen. Man hatte so etwas geahnt. Die Wucht des Luxus hat aber doch überrrascht.

Die Hunderttausend vom Maidan

Viktor Janukowitsch hat das Land am 22. Februar verlassen. Bei Nacht und Nebel, im wahrsten Sinne der Worte. Bis dahin hatten sich die Ereignisse schon mehrfach übeschlagen, und sie waren doch erst ein Anfang. Die Proteste für eine engere Bindung an Europa waren schnell von Protesten gegen die Regierung überlagert worden. Die wurde umgebildet, das reichte den Demonstranten nicht. Nach neun Tagen ließ Janukowitsch den Platz mit Tränengas und Knüppeln räumen und schaffte es damit, dass sich noch viel mehr Menschen mit den Demonstranten solidarisierten. In der festen Überzeugung, dass man so nicht mit seinem Volk umgehen könne, ging Natalie Udovenko Tag für Tag auf den Platz. Nun waren es zehntausend, hunderttausend, die mit ihr zusammen die blaugelbe Fahne schwangen, die Zelte aufstellten und sich weigerten zu weichen.

Wer im Oktober 2014 durch Kiew schlendert, bemerkt keinen großen Unterschied zu anderen Hauptstädten in Ost- und Westeuropa. Straßenhändler bieten die letzten Schnittblumen an, die ersten Stände mit heißen Maronen buhlen um Kundschaft, Straßenmusiker suchen die letzten sonnigen Plätzchen für ihre Kunst. Im vergangenen Winter erinnerten die Szenen in Kiew an einen Krieg. Drei junge ukrainische Filmemacher haben das festgehalten. Oleksandr Techynskyi, Aleksey Solodunov und Dmitry Stoykov haben in furiose Bildern gebannt, wie die Proteste eskalierten. „All Things Ablaze“ heißt ihr unkommentierter Film, der zwar noch nicht in den deutschen Kinos läuft, jüngst aber auf der DOK Leipzig ausgezeichnet wurde. „Als die ersten Opfer auf beiden Seiten fallen, verwischen die Grenzen von Gut und Böse, bis schließlich alles in Flammen steht“, sagen die Regisseure.

Ein glücklicher Tag Ende Februar

Es wird scharf geschossen. Mehr als 80 Tote hat es gegeben im Herzen der ukrainischen Hauptstadt, und bis heute sind viele Fragen offen, viele Einzelheiten nicht geklärt, viele Täter nicht zur Rechenschaft gezogen. In Donezk und in Lugansk, in Mariupol und auf der Krim sah man die Zustände in der Hauptstadt mit Schaudern und mit dem beruhigenden Gefühl, weit davon entfernt zu sein.

Der letzte Sonntag im Februar bescherte der ukrainischen Hauptstadt ein wenig Sonnenschein und leichte Plustemperaturen. „Für viele Menschen war das der glücklichste Tag seit Langem, vielleicht der glücklichste Tag bis heute“, sagt Kyril Savin. Der Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew hat den Ärger und die Wut auf dem Maidan erlebt und an diesem Februarwochenende die ungebändigte Freude gesehen. Der Präsident, auf den sich all der Ärger projiziert hatte, war Geschichte. Wenige Stunden zuvor hatte er mit den Oppositionsführern und unter Vermittlung der Außenminister Steinmeier (Deutschland), Sikorski (Polen) und Fabius (Frankreich) einen Friedensplan ausgearbeitet. Der war nach Stunden Makulatur.

In den folgenden Monaten sollten noch viele Pläne erstellt werden, deren Halbwertszeit ähnlich kurz geriet. Doch jetzt feierten die Menschen in Kiew erst einmal. In der Jubelstimmung ging fast unter, dass Wladimir Konstantinow kurz zuvor nach Moskau gereist war.

Der Streit um die Krim-Halbinsel

Konstantinow gehört zu den Menschen, deren Namen noch zum Jahresbeginn nur den wenigstens geläufig gewesen sein dürfte. Das hat er mit dem aktuellen Präsidenten Petro Poroschenko oder Alexander Sachartschenko, dem Anführer der prorussischen Separatisten, gemeinsam. Seit 2010 war Konstantinow Präsident des Parlaments auf der Krim. Jetzt rief er in Moskau lautstark um Hilfe. Die russische Nachrichtenagentur Interfax zitierte den Parlamentspräsidenten und seine Behauptungen sehr ausführlich. In Kiew agiere eine ausländische Armee, die „gut ausgebildet, bewaffnet, verwegen und gut bezahlt“ sei. Die gesamte russische Welt sei dadurch herausgefordert, sagte Konstantinow, und dass sich die Krim von der Ukraine abspalten könne.

Die Krim: etwa zwei Millionen Menschen leben dort, knapp sechzig Prozent von ihnen bezeichnen sich als Russen, rund ein Viertel als Ukrainer, gut zehn Prozent sind Tataren. Hier liegt die russische Schwarzmeerflotte, und hier liegen russische Interessen. Die sind von dem örtlichen Parlament in der Vergangenheit nicht schlecht berücksichtigt worden. Ein aussichtsreicher Listenplatz soll bei den Wahlen 100 000 Euro gekostet haben, kolportiert die Opposition, da sei es kein Wunder, dass nur dubiose Geschäftsleute im Abgeordnetenhaus sitzen. Solche wie Wladimir Konstantinow. Die sehen in diesen Februartagen die alten Seilschaften in Kiew wegbrechen. Die Übergangsregierung tendiert dort in Richtung EU. Das soll auf der Halbinsel mit allen Mitteln verhindert werden.

Männer in grünen Uniformen ohne Abzeichen

Während in Kiew darüber debattiert wird, ob Vitali Klitschko oder Julia Timoschenko bei den Präsidentenwahlen im Mai bessere Chancen haben, besetzen Männer in grünen Uniformen ohne Abzeichen die strategisch wichtigen Punkte auf der Krim. Russland dementiert zu diesem Zeitpunkt, etwas mit den Kämpfern zu tun zu haben. Später im Jahr, als auf der Krim schon lange mit russischen Rubeln und nicht mehr mit ukrainischen Griwna bezahlt wird, da gibt Wladimir Putin zu, dass es sich bei den grünen Männchen um russische Soldaten gehandelt hat. Bei den Krimbewohnern sind die nicht mal unbeliebt.

Und wieder überschlagen sich die Ereignisse. Am 27. Februar fordert das prorussische Krimparlament für den Mai eine Volksbefragung über die Autonomie. Zwei Tage später übernimmt Sergej Aksjonow die Befehlsgewalt auf der Krim. Der russlandtreue Regierungschef ist noch so ein Zeitgenosse, der wie aus dem Nichts in den Mittelpunkt des medialen Interesses kam. Er bittet Putin um Hilfe, und dieser schickt ganz offiziell Soldaten. Seinen Außenminister lässt er erklären, dass es für Moskau um die „Frage der Verteidigung unserer Bürger und Landsleute und der Sicherung ihrer Menschenrechte, insbesondere des Rechts auf Leben“ gehe.

Aksjonow erklärt, das Referendum bereits Ende März abhalten zu wollen. Kurz darauf wird der Termin ein weiteres Mal vorgezogen – am 16. März wird abgestimmt. In manchen Wahlbezirken liegt die Zustimmung bei mehr als 100 Prozent. 97 Prozent sollen es offiziellen Angaben zufolge am Ende gewesen sein, die für den Anschluss an Russland stimmten. Das sind sowjetische Verhältnisse, zumal es die Möglichkeit, für einen Beibehalt des Status quo zu stimmen, gar nicht gab. Allerdings: dass eine Mehrheit den Beitritt zu Russland ehrlich wünscht, das gilt als sicher.

Das Schicksal von Flug MH17

Dass die Krim nun russisch ist, sehen neben Moskau auch Armenien, Bolivien, Kuba, Nicaragua, Nordkorea, Simbabwe, Sudan, Syrien, Venezuela und Weißrussland so – und für eine kurze Zeit der Fußballweltverband Fifa. Der zeigt bei der Präsentation des Logos zur WM 2018 eine stilisierte Landkarte des Gastgeberlandes Russland mit der Krim als Teil der Föderation. Inzwischen hat sich die Fifa dafür entschuldigt. Europa, Amerika und große Teile der übrigen Welt erkennen die Annexion der Halbinsel nicht an. Russland und der Westen entfernen sich im Sauseschritt voneinander. Schon seit den kalten Wintertagen empfindet Wladimir Putin die Ukraine-Politik des Westens zunehmend als Bedrohung. Putins Ziel einer Eurasischen Union würde ohne die Ukraine in weite Ferne rücken. Erst verdeckt, dann immer offener unterstützt Russland die Rebellen auf der Krim und im Osten der Ukraine. Mit Waffen, Material und Soldaten. Internationale Verhandlungsrunden in Genf und Minsk ändern daran ebenso wenig wie Sanktionen der westlichen Welt gegenüber Moskau. Die Verlautbarungen aus dem Kreml klingen immer verbissener, die Töne aus Brüssel und Washington immer kühler.

Der Übergang der Krim an Russland verlief ohne großes Blutvergießen. Vielleicht hatten das die Demonstranten im Sinn, die noch vor dem Krim-Referendum im ostukrainischen Donezk auf die Straße gingen, um auch dort für eine entsprechende Abstimmung zu werben. Es sollte anders kommen, wieder einmal. Bei den Kämpfen in der Ostukraine haben bis heute mehr als 4300 Menschen ihr Leben verloren, eine Million sind auf der Flucht.

Das Grauen in der Ostukraine

Anfangs, als die Uniformierten ohne Hoheitsabzeichen im Osten der Ukraine auftauchten, da schienen sie dem Volk willkommen. Das Misstrauen gegen die Übergangsregierung in Kiew war gewaltig, die Wahl von Petro Poroschenko zum Präsidenten im Mai hat nichts daran geändert. Junge Mädchen, Rentner und Familienväter posierten mit den kalaschnikowbeschwerten Uniformträgern vor der Kamera. Dass die sogenannten Selbstverteidigungskräfte nicht aus dem Nachbarort stammten, sondern von der anderen Seite der Grenze zu Russland, war vielen Ukrainern am Ort egal, der Regierung in Kiew nicht. Tatenlos wollte die dem Zerfall ihres Staatsgebietes nicht zusehen. Sie ließ Soldaten in den Osten marschieren. Der heiße Sommer brachte gesprengte Brücken, besetzte Verwaltungsgebäude und täglich Meldungen, deren Wahrheitsgehalt nur selten überprüft werden konnte. 19 tote Soldaten hier, sagen die einen, 500 tote Separatisten dort, sagen die anderen. Schlimm genug, aber auch dieses Grauen war noch steigerbar. Am 17. Juli steigen 298 Personen in ein Flugzeug. Sie wollen von Amsterdam nach Malaysia. Über Donezk wird die Maschine abgeschossen – vermutlich aus Versehen, vermutlich von prorussischen Separatisten. Bewiesen ist das nicht, kein einziger der Insassen überlebt. Sie können bis heute nicht einmal alle zweifelsfrei identifiziert werden.

Die Welt steht unter Schock, ein heilsamer Schock für die Beteiligten ist das nicht. Waffenstillstände werden geschlossen und gebrochen. In Donezk und in Lugansk, in Schachtjorsk und Mariupol wird weiter geschossen, geblutet und gestorben. Volksrepubliken nennen sich die zerschossenen, zerbombten, zerstörten Gegenden nun. Des Volkes Wunsch ist Friede. Ob die Regierungen in Kiew und Moskau bereit sind, den zu erfüllen, ist ungewiss. Das von Michail Gorbatschow nach dem friedlichen Wandel im Herbst 1989 ausgerufene „gemeinsame Haus Europa“ versinkt im Nachbarschaftsstreit. Seit 25 Jahren waren die Beziehungen zwischen Ost und West nicht mehr so frostig. Und niemand weiß, ob nicht alles noch schlimmer wird.