Der Nürtinger Lars Lehnert hat bei bis zu 50 Grad Kälte in der antarktisches Forschungsstation Neumayer III gearbeitet. Wehmütig blickt er auf diese Zeit zurück.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Nürtingen/Atka - Abends klopfte ein Kollege an die Zimmertür: „Komm mit raus, das musst du dir ansehen.“ Lars Lehnert zog seine doppellagige Thermounterwäsche an, die warmen Strümpfe, Jeans, Pulli, den knallroten Polaranzug, Sturmhaube, Handschuhe, Schutzbrille, die japanischen Spezialschuhe, gemacht für bis zu minus 50 Grad. „Und dann stehst du da vor diesem fluoreszierenden Himmel.“

 

Lehnert sah Elektronenkonfigurationen, wie sie entstehen, wenn elektrisch geladene Teilchen der Magnetosphäre auf schwere Ionen in der oberen Atmosphäre treffen. So beschreiben Wissenschaftler das Phänomen der Elektrometeoren. Schöner klingt es, wenn man von Polarlichtern spricht. Noch schöner: Aurora australis. Eine Leuchterscheinung am antarktischen Nachthimmel, fremd und berückend, als würde man Zeuge eines galaktischen Schleiertanzes. „Der weiße Kontinent ist ein einziges Farbenspektakel“, sagt Lehnert.

Seit ein paar Wochen ist er zurück in Deutschland. Aber eigentlich ist er noch 13 000 Kilometer südwärts in der Atkabucht, auf dem 200 Meter dicken Ekström-Schelfeis. Auf dem kältesten, windigsten, trockensten Kontinent der Erde. Zu 98 Prozent Eis. Völkerrechtlich ein Niemandsland.

Vier Monate Training

14 Monate lebte Lars Lehnert in einer Polarstation des Bremerhavener Alfred-Wegener-Instituts. In Langzeitobservatorien sammeln Forscher hier Daten über Magnetismus, Seismik, Meteorologie, Atmosphärenchemie oder marine Akustik. Lehnert hatte vorher nie mit der Wissenschaft zu tun. Der 34-Jährige, geboren und aufgewachsen in Nürtingen, ist Informatiker. Genau so einen suchte das Institut für den Südpol. Einen IT-Administrator, der sich um das Kommunikationsnetz kümmert. Ihm war sofort klar: die Zeitungsannonce ist seine einmalige Abenteuerchance. In Bremerhaven wurde er einen Tag lang von innen nach außen gekrempelt. Dann hieß es: „Wir nehmen Sie.“ Als er seinen Job kündigte, die Wohnung auflöste, die Möbel einmottete und sein bisheriges Leben auf Eis legte, wurde ihm zum ersten Mal mulmig.

Es folgten vier Monate Training mit seinem Team: ein Elektriker, ein Koch, ein Arzt, ein Maschinenbauingenieur und vier Wissenschaftler. In der Vorbereitungszeit begann Lehnert ein Verhältnis mit einer ostfriesischen Schwäbin. Jeder prophezeite: das geht nicht gut. So heirateten sie, gerade zum Trotz, zwei Wochen vor seiner Südpolexpedition ohne Trauzeugen auf einem Leuchtturm in Wangerooge.

Der Startsprung trug die neun Entdecker nach Südafrika. Von Kapstadt aus flogen sie mit einer alten Iljuschin sechs Stunden in die Nordantarktis zur russischen Station Novo, einem Drehkreuz zu zehn Forschungsstationen. Die Landebahn aus Eis, der Tower in einem Container, ein paar Zelte als Airport-Hilton. Mit einer umgebauten DC-3 drang die deutsche Reisegruppe nach drei Stunden ins Herz der Antarktis vor, zur Station Neumayer III, benannt nach Georg Neumayer (1826–1909), dem Polarforscher und Lehrer von Roald Amundsen.

Stahlkoloss im ewigen Eis

Schließlich stand Lehnert vor dem Stahlkoloss im ewigen Eis: 2300 Tonnen schwer, vier Stockwerke hoch, 40 Millionen Euro teuer und „unwirklich wie aus Lego“. Neumayer III steht auf einer Eisplatte, die mit dem Festlandeis verbunden ist und jährlich 160 Meter ins Meer hinauswächst. Eine Fähre auf Stelzen. Damit die Station nicht, wie ihre Vorgänger, irgendwann von der jährlich zwei Meter steigenden Schneedecke geschluckt wird, hat sie 16 Beine. Die werden, wie bei einem Hund, dem man die Pfoten putzt, regelmäßig angehoben, dann schaufelt man ordentlich Schnee drunter und richtet am Ende alle Stelzen auf die neue Höhe aus.

Wie bei James-Bond-Filmen öffnet sich per Knopfdruck ein mit Eis überzogener Deckel zur riesigen Tiefgarage. Hier sind Lagerräume, das Kraftwerk, das täglich 800 Liter Polardiesel schluckt, die Motorschlitten, Pistenraupen und das einzige Auto im Fuhrpark, ein Toyota Hilux mit Kettenantrieb. Von oben wird regelmäßig Schnee in unterirdische Luken geschoben und geschmolzen. Das Wasserreservoir am 70. Breitengrad Süd ist unerschöpflich.

Im Wohnbereich gibt es eine Lounge, eine Sauna, ein Operationszimmer, eine Großraumkühlzelle, einen Hobbyraum mit Billard, Kicker, Fernseher. TV-Kanäle kann man nicht empfangen, Filme brachte die Lehnert-Crew auf Festplatte mit. Sonntags, Punkt 20.15 Uhr, war „Tatort“-Zeit.

Sommer bei zehn Grad minus

Als sie ankamen, lag Sonnencremeduft in den Fluren. Es war Sommer und das Thermometer selten unter zehn Grad minus. Am ersten Tag saß Lehnert bis zwei Uhr nachts in der Bar, und es wurde einfach nicht dunkel. „Von November bis Februar verschwindet die Sonne nie, sie wandert nur herum.“ Es dauerte drei Wochen, bis er einen neuen Rhythmus und ein neues Lebenstempo fand.

Bevor sich die alte Crew verabschiedete, holte man gemeinsam das Jahresequipment von der Polarstern, einem Eisbrecher, der bis ans Ufer der Schelfeiszone heranfährt. Mit Pistenraupen zogen sie die Container und Tanks zur Station. Reisegeschwindigkeit: zwei Stunden für 20 Kilometer.

Den Winter über verabschiedet sich die Sonne. Die Natur wird unmenschlich hart und völlig unberechenbar. Von März an gibt es keine Flüge mehr. Niemand kommt mehr raus, was auch passiert. „Wir waren ein gutes Team, haben nach Reibereien bald wieder zueinandergefunden. Das ist wichtig.“

Die tiefste Temperatur war 47 Grad minus. „Dazu 20 Knoten Windchill. Das heißt, der Mensch fühlt 60 Grad Kälte“, sagt Lehnert. Der Bart wird zum großen Eisklumpen. Die Wimpern verwandeln sich in Eiszäpfchen, manchmal kriegt man plötzlich ein Augenlid nicht mehr auf. Der feuchte Atem lässt einem die Sturmhaube ans Gesicht festwachsen. „Es dauert eine halbe Stunde, bis das auftaut.“

Ein Jahr Kälte und Ödnis

Für Lehnert gab es keine Krise, kein Heimweh. „Es wäre Energieverschwendung, man kann ja eh nicht zurück.“ Täglich telefonierte er mit seiner Frau. Das gehörte zu den festen Regeln. Jeden Kleinkram erzählen, damit die Kluft nie zu groß wird. Auf Fotos, die er per E-Mail schickte, konnte sie verfolgen, wie sein Bart immer monströser wurde.

Ein Jahr Kälte, Eis, Ödnis. Lehnert wurde es nie fad. Weil die Antarktis die Sinne neu justiert, gleichsam in hochauflösende Bereiche führt. Bei Schneestürmen existiert keine Landschaft mehr, nur eine weiße Wand. Wochenlang. Aber an den Bullaugen des Flaggschiffs im Schelfeis warten Schneeverwehungen und Eiskristalle darauf, entdeckt zu werden. Abstrakte Kunstwerke, mit denen man ganze Tage verbringen kann. Jedes Fenster ein anderes Gemälde. Neumayer III als polares Guggenheim-Museum.

Lehnert war für die Eismeerhorchstation zuständig. Wer sich der hypnotischen Kraft antarktischer Unterwasserhörspiele hingibt, braucht keinen David Garrett in der Schleyerhalle. Der nie vernommene, gespenstische Sirenengesang sich bewegender Eisberge: Hochleistungsmikrofone bringen ihn an den Tag. Die Laute von Seeleoparden: wie wundersame Flötenmusik. Weddellrobben pfeifen dazu ihre Gute-Laune-Songs. Und dann dieser dunkle Ton, wie von einem Cello. Wärmer und schöner als eine ganze Schubert-Sonate. Keiner hat ihn bisher enträtselt. Die Forscher können nicht einmal sagen, ob er von einem Tier stammt oder von unbelebter Herkunft ist.

Begegnung mit der Seevogelclique

Acht Kilometer von der Station entfernt lebt eine Kaiserpinguinkolonie mit mehreren Tausend Exemplaren. Lehnerts Infotainmentprogramm für Sonntagnachmittage: Wie gehen die Tiere miteinander um? Wer hat den coolsten Gang von allen? Welche neugierige Seevogelclique wackelt als erste zu den Besuchern rüber? „Für die Pinguine waren wir roten Riesen sicher eine genauso komische Abwechslung wie sie für uns.“ Eigentlich ist nicht viel passiert in dem Eisjahr. Aber er habe mehr erlebt als in den fünf Jahren vorher, sagt Lehnert. Manchmal kamen ihm ernsthafte Zweifel: Bin ich jetzt ein paar Monate oder schon ewig hier?

Mit dem nahenden Abschied wuchs die Wehmut. „Weil man höchstwahrscheinlich nie zurückkehrt.“ In Deutschland beging Lehnert gleich einen groben Fehler: Am ersten Wochenende besuchte er die Cebit. Zu viel Dateninput für einen Neuanfänger. Lehnert lebt nun mit seiner Frau in Emden. Gut zum Eingewöhnen: „Friesland hat was Antarktisches.“ Nach dem Urlaub muss er einen Job suchen. Am liebsten bliebe er im Wissenschaftsmilieu.

Bis jetzt hat er es nicht übers Herz gebracht, seinen Bart abzurasieren. Lehnert leidet noch unter dem kalten Entzug, das merkt er bei jedem Gespräch. Unaufhaltsam wie ein Eisbrecher steuert er dann auf das Thema Südpol zu. „Weil in meinem Gedächtnis sonst fast nichts mehr vorhanden ist.“