Reportage: Akiko Lachenmann (alm)

Er sei ein echter „Pädo“, ein sogenannter Kernpädophiler, der mit seiner Neigung vermutlich zur Welt kam. Kein Missbrauch in der eigenen Kindheit, keine gestörte Vater- oder Mutterbeziehung könne er als Ursache heranziehen. Seine Kindheit war behütet. Seine Eltern hätten in jeder Phase seines Lebens hinter ihm gestanden, immerzu bedacht, sein Selbstbewusstsein zu stärken – bis heute.

 

Als er sich das erste Mal verliebte, war er selbst noch ein Kind. Ein zwölfjähriger Klassenkamerad bereitete ihm schlaflose Nächte. Er wurde älter, die Helden seiner Träume blieben jung und männlich. Irritiert versuchte er es in der Pubertät mit Mädchen – mit den androgynen konnte er sich einigermaßen anfreunden. Als er zur Bundeswehr musste, war er fast erleichtert. Die Auszeit würde seine Gefühle neu justieren, hoffte er. Dann kam eine Einladung zu einer Familienfeier. Ein Junge lachte ihn an. Auf der Fahrt zurück in die Kaserne brach die Gewissheit über ihn herein. „Mir zitterten die Knie“, erinnert sich Thorsten Brandmeier an diesen Moment. Nicht so sehr wegen der Erkenntnis, sich in Jungen zu verlieben, sondern weil damit sämtliche Vorstellungen, die er von seiner Zukunft hatte, auf einen Schlag weggefegt waren. „Ein Mensch spürt erst, wie sehr er darauf angewiesen ist, ein gesellschaftlich akzeptiertes Leben zu führen, wenn er aus dem Raster fällt“, sagt er.

Schließlich sucht er sich Hilfe

Doch Brandmeier ist keiner, der sich lähmen lässt. Er hat gelernt, nach Lösungen zu suchen. Er suchte sie im Internet. Nicht nach Gleichgesinnten hielt er Ausschau. „Ich suchte jemanden, der mir sagt, wie ich in dieser Gesellschaft als Pädophiler leben kann.“ Brandmeier fand Sylvia Tanner, eine Schweizerin, die ursprünglich Aidskranke beriet. Sie verschob ihre Zielgruppe auf pädophile Männer, nachdem ihr eines Tages ein Freund der Familie seine Neigung zu Jungs und seine Liebe zu ihrem älteren Sohn gestanden hatte. Er wollte verhindern, dass dieser im Zuge von Ermittlungen gegen ihn befragt wird – obwohl keine sexuellen Kontakte stattgefunden hatten –, und beging Suizid. Lange Zeit war Tanner die einzige Person im deutschsprachigen Raum, die Pädophile bei ihrem Coming-out unterstützte. Bis zu ihrem Tod vor vier Jahren gelang es ihr nicht, öffentliche Unterstützung für ihr Beratungsangebot zu erhalten.

Thorsten Brandmeier kommunizierte mit ihr zunächst über das Internet, später besuchte er sie in ihrer Wohnung in Schaffhausen. „Sie half mir und vielen anderen verunsicherten jungen Männern dabei, sich so anzunehmen, wie man ist“, erzählt er. Ihr Büro war wie eine Insel, auf der sich niemand zu verstellen brauchte. Auf der auch mal gelacht wurde über all die verliebten Pädophilen, die sich auf dem Bolzplatz abmühen und Spielernamen auswendig lernen, um Zwergen im Barcelona-Trikot zu gefallen. Sylvia Tanner machte den Männern keinerlei Vorschriften, bis auf die eine: „Hands off!“ – keine sexuellen Kontakte. „Aber das musste sie mir gar nicht sagen“, sagt Brandmeier. „Ich weiß doch, dass Kinder daran überhaupt keine Freude haben.“

Thorsten Brandmeier ringt einige Wochen lang mit sich, bis er zu einem Treffen bereit ist. Da sei diese ständige Paranoia, dass sein Geheimnis auffliegt, sagt er in einem der Telefonate vor dem Treffen. Am größten sei das Misstrauen gegenüber Journalisten. „Erst kürzlich hat sich wieder ein RTL-Journalist mit versteckter Kamera in einen Pädophilentreff geschmuggelt“, erzählt er. Anschließend habe der Journalist die Polizei alarmiert. Auch aus diesem Grund macht Brandmeier einen großen Bogen um Gesprächskreise und Selbsthilfegruppen. Bewusst habe er keinen Beruf gewählt, der irgendwie mit Kindern zu tun hat. „Ein zu langer Blick, ein vager Verdacht, und du musst deine Koffer packen und auswandern“, sagt er.

„Ich will einen Gegenentwurf skizzieren“

Am Ende obsiegt sein Bedürfnis, sich zu zeigen als einen Menschen, der verantwortungsbewusst mit seiner Neigung umgeht. Der weder seine sexuellen Bedürfnisse mit Kindern auslebt noch dazu therapeutische Hilfe benötigt. Zu viel sei geschrieben worden über obsessiveTäter in Therapie, beklagt Thorsten Brandmeier. Ihre Porträts verzerrten die Realität und nährten die Angst und Abscheu der Gesellschaft gegenüber pädophilen Männern. „Ich will die Probleme, die mit meiner Neigung verbunden sind, nicht verharmlosen“, betont er mehrmals am Telefon. „Ich will nur einen Gegenentwurf skizzieren zur herrschenden Vorstellung, dass jeder Pädophile seelisch gestört ist.“

Am Treffpunkt erscheint ein bärtiger Mann in den 30ern mit fröhlichen Augen. Er trägt ein grünes Poloshirt, schwarze Jeans, Asics-Turnschuhe – bewusst gewählte Durchschnittskluft. Thorsten Brandmeier ist ein selbstbewusster, gebildeter Mann, der über seine Gefühle zu sprechen vermag. „Können wir spazieren gehen?“, fragt er. Das helfe beim Erzählen.

Eine bürgerliche Existenz wird zerstört, bevor sie beginnt

Er sei ein echter „Pädo“, ein sogenannter Kernpädophiler, der mit seiner Neigung vermutlich zur Welt kam. Kein Missbrauch in der eigenen Kindheit, keine gestörte Vater- oder Mutterbeziehung könne er als Ursache heranziehen. Seine Kindheit war behütet. Seine Eltern hätten in jeder Phase seines Lebens hinter ihm gestanden, immerzu bedacht, sein Selbstbewusstsein zu stärken – bis heute.

Als er sich das erste Mal verliebte, war er selbst noch ein Kind. Ein zwölfjähriger Klassenkamerad bereitete ihm schlaflose Nächte. Er wurde älter, die Helden seiner Träume blieben jung und männlich. Irritiert versuchte er es in der Pubertät mit Mädchen – mit den androgynen konnte er sich einigermaßen anfreunden. Als er zur Bundeswehr musste, war er fast erleichtert. Die Auszeit würde seine Gefühle neu justieren, hoffte er. Dann kam eine Einladung zu einer Familienfeier. Ein Junge lachte ihn an. Auf der Fahrt zurück in die Kaserne brach die Gewissheit über ihn herein. „Mir zitterten die Knie“, erinnert sich Thorsten Brandmeier an diesen Moment. Nicht so sehr wegen der Erkenntnis, sich in Jungen zu verlieben, sondern weil damit sämtliche Vorstellungen, die er von seiner Zukunft hatte, auf einen Schlag weggefegt waren. „Ein Mensch spürt erst, wie sehr er darauf angewiesen ist, ein gesellschaftlich akzeptiertes Leben zu führen, wenn er aus dem Raster fällt“, sagt er.

Schließlich sucht er sich Hilfe

Doch Brandmeier ist keiner, der sich lähmen lässt. Er hat gelernt, nach Lösungen zu suchen. Er suchte sie im Internet. Nicht nach Gleichgesinnten hielt er Ausschau. „Ich suchte jemanden, der mir sagt, wie ich in dieser Gesellschaft als Pädophiler leben kann.“ Brandmeier fand Sylvia Tanner, eine Schweizerin, die ursprünglich Aidskranke beriet. Sie verschob ihre Zielgruppe auf pädophile Männer, nachdem ihr eines Tages ein Freund der Familie seine Neigung zu Jungs und seine Liebe zu ihrem älteren Sohn gestanden hatte. Er wollte verhindern, dass dieser im Zuge von Ermittlungen gegen ihn befragt wird – obwohl keine sexuellen Kontakte stattgefunden hatten –, und beging Suizid. Lange Zeit war Tanner die einzige Person im deutschsprachigen Raum, die Pädophile bei ihrem Coming-out unterstützte. Bis zu ihrem Tod vor vier Jahren gelang es ihr nicht, öffentliche Unterstützung für ihr Beratungsangebot zu erhalten.

Thorsten Brandmeier kommunizierte mit ihr zunächst über das Internet, später besuchte er sie in ihrer Wohnung in Schaffhausen. „Sie half mir und vielen anderen verunsicherten jungen Männern dabei, sich so anzunehmen, wie man ist“, erzählt er. Ihr Büro war wie eine Insel, auf der sich niemand zu verstellen brauchte. Auf der auch mal gelacht wurde über all die verliebten Pädophilen, die sich auf dem Bolzplatz abmühen und Spielernamen auswendig lernen, um Zwergen im Barcelona-Trikot zu gefallen. Sylvia Tanner machte den Männern keinerlei Vorschriften, bis auf die eine: „Hands off!“ – keine sexuellen Kontakte. „Aber das musste sie mir gar nicht sagen“, sagt Brandmeier. „Ich weiß doch, dass Kinder daran überhaupt keine Freude haben.“

Inzwischen hat er engste Vertraute eingeweiht

Kein leichter Gesprächsstoff. Im Biergarten wechselt Thorsten Brandmeier mehrere Male den Tisch, immer dann, wenn sich Leute an den Nachbartisch setzen. Dann will er wieder spazieren gehen, will erklären, warum er den Kontakt zu Kindern sucht und auch braucht. „Sonst würde meine Seele verkümmern“, sagt er. Derzeit sei er mit zwei Jungen befreundet, einem älteren und einem jüngeren, mit denen er abwechselnd etwas unternimmt, Fußball spielt, fernsieht, Nudeln kocht, auch mal rauft, auch mal streitet. „Sie melden sich bei mir – nie umgekehrt“, betont er. Die Eltern hätten volles Vertrauen, wüssten aber nichts von seiner Neigung. Wie solle er ihnen auch reinen Wein einschenken, ohne sie zu ängstigen? Ein Dilemma. Und wo bleibt für ihn das sexuelle Erleben? „Jeder weiß doch, wie man sich selbst befriedigt“, sagt er. Vor dem PC? „Ja, manchmal auch mit Internetbildern, zum Beispiel mit Familienaufnahmen, die irgendwo im Netz stehen.“ Mehr brauche er nicht. Mehr wäre nicht gut für die Kinder – und verhängnisvoll für ihn.

In einem Radiobeitrag für den WDR beschreibt der Sexualwissenschaftler Christoph Josef Ahlers, dass Pädophile genauso wie Nichtpädophile das Bedürfnis nach einer partnerschaftlichen Beziehung haben, die weit über das Sexuelle hinausgeht. Sie wollen das Kind gut kennenlernen, Zeit mit ihm verbringen, gemeinsame Unternehmungen machen. „Wer die Grenzen kennt und kontrollieren kann, der belässt es dabei“, sagt Ahlers. Schließlich sehnten sich auch Pädophile nach einer „stabilen Beziehung“ ohne Vertrauensbrüche. „Ich beschreibe dieses Verhalten, weil es kaum bekannt ist“, sagt Ahlers. Bekannter ist das krankhafte Verhalten von Pädophilen in Haft oder in Therapie, die keine Rücksicht auf das Kind genommen haben. 99 Prozent der Pädophilen-Forschung findet in den Gefängnissen statt.

Nicht jeder Vergewaltiger ist gleich ein Pädophiler – und umgekehrt

Thorsten Brandmeier  kann das Verhalten der Täter nicht nachvollziehen. „Mit ihnen habe ich so viel Verständnis wie nichtpädophile Männer mit Vergewaltigern.“ Wütend sei er auf sie, weil sie den Pädophilen-Hass in der Gesellschaft weiter schüren. Wütend auch auf die Medien, die oft nicht genau hinsehen, ob der Täter überhaupt pädophil ist – wie bei dem belgischen Kindermörder Marc Dutroux, den einige Zeitungen bis heute als Pädophilen bezeichnen. Dabei ist er – wie viele andere Sexualstraftäter auch – schlicht ein zur Einfühlung unfähiger Psychopath.

Tatsache ist dennoch, dass die statistische Wahrscheinlichkeit, ein Kind zu missbrauchen, unter Pädophilen viel höher ist als bei Nichtpädophilen. Die deutsche Kriminalstatistik verzeichnet für das vergangene Jahr 14 877 Übergriffe auf Kinder – 40 Prozent, so schätzt das Berliner Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin, werden begangen von pädophil veranlagten Männern. Die Mehrheit der Täter sind sogenannte Ersatzobjekttäter, die eigentlich Frauen lieben, aber aus unterschiedlichen Gründen kein erfülltes Sexleben haben. „Nimmt man die Dunkelziffer dazu und multipliziert mal fünf, kommt man auf knapp 30 000 ‚böse‘ Pädophile“, sagt Jens Wagner, der Sprecher des Berliner Instituts. „Das bedeutet umgekehrt: neun von zehn sind es nicht.“

Die Rate könnte höher sein, wenn flächendeckend Beratungen und Therapien für Pädophile angeboten würden. Bundesweit gibt es derzeit ungefähr 20 Anlaufstellen, darunter die zehn Standorte des vom Bund finanzierten Präventionsnetzwerks „Kein Täter werden“. Einige haben mehrmonatige Wartezeiten, andere sogar Aufnahmestopps. Die Patienten nehmen mehrstündige Anfahrten auf sich, um an den Programmen teilnehmen zu können.

Ansonsten mangelt es an Therapeuten für Pädophile. „Viele wollen mit dem Thema nichts zu tun haben“, beobachtet Kurt Seikowski, der selbst als Sexualtherapeut im Uniklinikum Leipzig arbeitet. „Denn wird ein Patient rückfällig, steht auch der Therapeut am Pranger.“ Er spricht aus eigener Erfahrung, er stand vor einigen Jahren mit Foto in der „Bild“-Zeitung, nachdem ein ehemaliger Patient rückfällig geworden war. „Ich genieße allerdings den Schutz der Uni“, sagt er. Als niedergelassener Arzt hätte er jetzt wahrscheinlich keine Patienten mehr.

Vorurteile lösen emotionale Probleme bei Pädophilen aus

Auch die Art, wie die Gesellschaft mit Pädophilen umgeht, hat für den Schutz der Kinder hohe Relevanz. Zumindest haben die Wissenschaftler von der Technischen Universität Dresden in einer weiteren Studie festgestellt, dass ein Zusammenhang besteht zwischen Stigmatisierung und einer Beeinträchtigung wichtiger psychischer Funktionen, die notwendig sind, um das sexuelle Verhalten steuern zu können. „Das Gefühl, ausgegrenzt zu sein, kann emotionale Probleme zur Folge haben wie beispielsweise eine eingeschränkte Impulskontrolle“, sagt die Stigma-Forscherin Sara Jahnke. Außerdem habe die Angst vor Entdeckung zur Folge, dass Betroffene soziale Kontakte möglichst meiden, vereinsamen und sich dadurch jeglicher sozialer Kontrolle entziehen.

Für Thorsten Brandmeier hat diese Gefahr nie bestanden. Seine Eltern sind eingeweiht, ebenso zwei langjährige Freunde. Den Mut zum Outing verdankt er der Begegnung mit Sylvia Tanner. Um zumindest einen Teil ihres Erbes fortzuführen, berät er in seiner Freizeit pädophile Männer im Internet. Am liebsten würde er auch mit Vertretern verschiedener Gesellschaftsbereiche in Kontakt treten, die sich – frei von Vorurteilen – für das Leben von Pädophilen interessieren. Anonym, versteht sich. „Eine offene Diskussion und Aufklärungsarbeit ist für uns Betroffene noch nicht möglich“, sagt Thorsten Brandmeier.

Beim Abschied fragt er noch scherzhaft, wann eigentlich das SEK komme. Dann kehrt Thorsten Brandmeier dahin zurück, wo er vorgeben muss, ein anderer zu sein.