Italien hat Beppe Grillo, wir haben die Piraten: Auch wenn die etablierte Parteiendemokratie in der Krise steckt, brauchen wir die Parteien. Ein Plädoyer von Werner Birkenmaier.

Stuttgart - Wir haben uns angewöhnt, von der Parteiendemokratie zu reden. Aber wie lange gilt der Begriff noch? Die Dinge sind im Fluss, nicht von ungefähr sprechen junge Leute von einer liquiden Politik. Ehemals große Volksparteien schrumpfen sich von Sieg zu Sieg und sehen sich neuen Mitspielern wie den Piraten gegenüber. Wutbürger, Eurogegner, digitale Empörungsschwärme bereiten der Behaglichkeit ein Ende. Eine neue Dynamik macht Politik weniger kalkulierbar.

 

Deutschland ist nicht Italien, aber nicht ohne Sorge blicken deutsche Parteien auf den jüngsten Wahlausgang in Rom. „Tsunami-Tour“ hat der Komiker Beppe Grillo sein Wahlkampfprogramm genannt und damit das Parteiensystem wie eine Woge überrollt. Die in alle Richtungen schillernde Bewegung stellt im Abgeordnetenhaus mit mehr als 25 Prozent die meisten Volksvertreter. Noch nie zuvor ist eine Protestbewegung aus dem Stand in ein nationales Parlament mit solcher Wucht vorgedrungen. Nichts ist mehr wie zuvor, weder rechts noch links gibt es eine klare Mehrheit. Wenn zornige Bürger mit ihrer Wahlentscheidung gegen das etablierte Parteiensystem stimmen, wird die Regierungsbildung schwierig. Aber auch der Protest ist ein demokratisches Votum und erzwingt ein Überdenken der Verhältnisse.

Die Wähler werden wählerischer

Den Bundesbürgern geht es noch zu gut, als dass hierzulande ein Tsunami römischen Ausmaßes drohen könnte. Aber die Wähler sind wählerischer geworden, und insbesondere die Volksparteien können sich nicht mehr auf ihre Anhängerschaft verlassen. Weil das so ist, wird von einer Krise der Parteien und der Parteiendemokratie gesprochen. Nur: woran misst sich das? Wenn von einer Krise die Rede ist, muss es zuvor einen Zustand der Normalität gegeben haben. Tatsächlich herrschte in der Bundesrepublik mehr als sechzig Jahre lang parteipolitische Stabilität.

Zwar gab es 1949 im ersten Bundestag noch zehn Parteien, aber viele von ihnen verschwanden wieder. Dann teilten sich über dreißig Jahre hinweg Union, SPD und FDP die Macht, bis Anfang der achtziger Jahre die Grünen kamen. Obwohl sie zunächst als Anti-Partei antraten, wurden sie rasch zur etablierten Kraft. Bei 17 Bundestagswahlen kam es nur einmal zu einem kompletten Machtwechsel, als 1998 Rot-Grün die Wahl gewann. Mehr Stabilität geht kaum. Italien zählte in dieser Zeit mehr als sechzig Regierungswechsel. Doch der gesellschaftliche Wandel hat die Bürger und damit ihr Wahlverhalten geändert. Traditionelle Bindungen lockerten sich, die Wähler wurden individualistischer und damit anspruchsvoller. Hing früher die Wahlentscheidung des Bürgers davon ab, wie sehr er sich an seine Partei gebunden fühlte, so fragt er sich heute: Was bringt mir die Partei eigentlich? Damit hat er aus einem überschaubaren Parteiensystem einen Parteienmarkt gemacht. Er erwartet von den Politikern, dass sie seinen Lebensstil widerspiegeln. Er will von den Parteien immer neu überzeugt werden. Doch damit tun sich die Parteien schwer, denn die Wählerschaft ist heterogener als je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik.

Es kommt hinzu, dass es an großen Themen fehlt, die einst die Auseinandersetzung und damit die parteipolitischen Fronten bestimmten. Adenauers Westbindung, Brandts Ostpolitik – das mobilisierte die Wahlbürger. Von dieser Vergangenheit können die Parteien nur noch träumen. Weil sie alle mehr oder weniger einer Politik der Mitte verpflichtet sind, gleichen sie sich notgedrungen einander an. Ihre wachsende Ununterscheidbarkeit bereitet dem Wähler Verdruss. Der Mangel an glaubwürdigen Leitideen führt zu Verunsicherung und Desorientierung.

Machtversessen und machtvergessen?

In ihren Glanzzeiten konnten die Parteien der Versuchung nicht widerstehen, sich krakenhaft überall einzumischen, sei es im Rundfunk oder auch, im kleineren Maßstab, bei den Stadtwerken. Das Parteibuch versprach Karriere. Nicht zuletzt deshalb hat Bundespräsident Richard von Weizsäcker gewarnt, die Parteien seien „machtversessen und machtvergessen“. Weil von oben her entschieden wurde, fühlten sich die Bürger oftmals übergangen Das Primat der Politik wurde zum Pyrrhussieg der Parteien. Sie verloren an Ansehen. Seit Anfang der neunziger Jahre gibt es den Begriff der „Politikverdrossenheit“. Er bedeutet aber nicht, dass die Wähler Politik insgesamt ablehnen. Sie weichen nicht der Politik aus, sie weichen nur dieser Art von Politik aus.

Eine Ausweichmöglichkeit besteht darin, sich der Gruppe der Nichtwähler anzuschließen. Das sind nicht etwa Dauerverweigerer, sondern eher „Wähler auf Urlaub“, die hoffen, bald wieder an Wahlen teilnehmen zu können. Stärker als die Wähler insgesamt verorten sich Nichtwähler in der politischen Mitte. Der Frust über den Politbetrieb frisst sich offenbar immer tiefer in die Gesellschaft. Der Anteil der Nichtwähler nähert sich den dreißig Prozent. Kürzlich, in Niedersachsen, waren es sogar vierzig Prozent.

Politik ist immer anstrengend

Für die etablierten Parteien wird das zum Problem. Wenn sie ihrer Mittlerfunktion zwischen Staat und Gesellschaft immer weniger gerecht werden, übernehmen andere Bewegungen diese Aufgabe. Weil diesen Bewegungen die repräsentative Demokratie als zu obrigkeitlich erscheint, verlangen sie direkt-demokratische Beteiligung auch auf Bundesebene. Oder sie gründen neue Parteien wie jüngst die „Alternative für Deutschland“, die gegen den Euro und die Einmischung Brüssels kämpfen will. Einen Tsunami wird die Partei damit nicht auslösen, aber sie ist ein Symptom der Unzufriedenheit.

Wähler, die raschere Entscheidungen wünschen und zugleich auf den unterschiedlichsten Ebenen einbezogen sein wollen, haben die Partei der Piraten gegründet. Wer sich in einem online-bestimmten Lebensraum verortet, der nimmt politische Relevanz anders wahr. Die privat-digitale Perspektive ist dabei identisch mit Politik. So hoffen die Piraten, das Beharrungsvermögen der etablierten Parteien überwinden zu können. Mehr Demokratie geht mit mehr Technik – das ist ihr Credo, das aber ein Irrtum sein könnte. Die Teledemokratie kann die Anwesenheitsdemokratie nicht ersetzen. Es gibt keine folgenreiche Einmischung in die Politik, die anstrengungsfrei zu haben wäre. Der Siegeszug der Generation „Kommentar“ mit seiner Verflüssigung der Politik wird deshalb auch nicht anhalten. Beim Wählervertrauen sind die Piraten deutlich abgestürzt.

Ein Kreuzchen genügt nicht mehr

Für die anderen Parteien kann das aber keine Beruhigung sein. Sie sollten sich vielmehr ihrer vom Grundgesetz vorgegebenen Aufgabe besinnen, bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Diese Bestimmung hatten sie lange missverstanden und so ausgelegt, dass das Volk ein wenig bei der Politik mitwirken dürfe – aber auch das nur bei Wahlen. Die Parteien können auf Dauer aber Macht nur behalten, wenn sie Macht abgeben und sich wieder mehr um politische Inhalte kümmern. Dafür werden sie gebraucht.

Der unlängst verstorbene Politologe Wilhelm Hennis hat den Parteienstaat gegen Weizsäcker verteidigt und gesagt: „Parteien gibt es überall dort, wo man in Freiheit lebt.“ Auch Bundespräsident Gauck setzt sich von seinem Amtsvorgänger ab. Ihm missfalle, wenn die Parteien pauschal schlecht gemacht würden: „Ohne sie wären wir nicht da, wo wir heute sind.“