Er kann auch anders als lustig und überdreht: Wie es Barrie Kosky in Berlin gelingt, die Alten und die Jungen an sein Haus, die Komische Oper, zu binden.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Wer in zwei Minuten wissen will, wie es Barrie Kosky meistens zumute ist, schaut am besten virtuell bei der Komischen Oper rein, wenn der Intendant im bunten Hemd und mit großen Augen hinter den Gläsern erklärt, warum es überhaupt nichts Besseres gibt, als in Berlin Chef und auch noch Chefregisseur zu sein: Man kann sich dann nämlich, sagt Kosky – wie fast immer aufgedreht, als habe er einen Finger in der Steckdose – aussuchen, was man machen möchte, zum Beispiel eine Oper, von der seit 1948 fast alle anderen Leute seines Metiers die Finger gelassen haben. Es handelt sich um Modest Mussorgskis „Jahrmarkt von Sorotschinzi“, ein Fragment, das zuletzt Walter Felsenstein, der berühmte Übervater der Komischen Oper, in seiner ersten Spielzeit präsentierte, das war 1948. Auf Deutsch, wie sich das von Anfang an in der Behrenstraße gehörte.

 

Der Stoff, bei Kosky auf Russisch und frei nach einer Erzählung von Nikolai Gogol, ist so durchschaubar wie teils fein gewirkt: kleinrussisches, genauer, ukrainisches Bauerdorf; Junge, leider zu arm, liebt Mädchen mit böser Mutter. Auf der Männerebene regiert der Suff, bei den Frauen der Frust, und zu allem Überfluss ist auch noch viel Surreales im Spiel, denn der Wirt des Orts hat den Kittel des Teufels (der hier gerne zechte) einem, wie es heißt, fahrenden Mann verkauft, und nun kommt der Teufel natürlich immer wieder – des Nachts und in Schweinegestalt.

Stimmige Ergänzung

Man muss die Geschichte nicht lang und groß dechiffrieren: In Mussorgskis Oper, parallel geschrieben zu „Chowanschtschina“ und ebenso nicht fertig geworden, steckt reichlich Autobiografisches (der Komponist ging mit gut Vierzig am Schnaps zugrunde), viel Rassen-Ressentiment und eine ordentliche Portion Niedertracht. Teilweise handelt es sich auch um eine antisemitische Sauerei. Das Verrückte ist, und genau hier setzt Barrie Kosky, geboren 1967 in Melbourne als Sohn russisch-jüdischer Emigranten, an, dass sich auch aus dieser prekären Konstellation noch etwas machen lässt.

Kosky, Musikhistoriker und glänzender Pianist obendrein, ergänzt nämlich das im Übrigen fingerfertig komponierte und teilweise hochkomische Stück (mit einem in der Hauptrolle agierenden, überragenden Opernchor) um Mussorgski-Lieder, vor allem aber um das „Hebräische Lied“ von Nikolai Rimski-Korsakow, das seinesgleichen sucht an Empfindsamkeit. Geradezu umarmend kommt diese Musik am Anfang aus dem Dunkeln, wie sie, ebenso berührend, einen am Schluss wieder in die Nacht geleitet. Die Choristen haben Kerzen in der Hand, und sie singen: „In der Welt habt ihr Angst, aber die Liebe, nicht der Aberglaube kann die Welt überwinden.“ Rimski-Korsakows Vater war Gouverneur in der Westukraine, von wo er abkommandiert wurde, weil man ihn für zu weich hielt. Der Sohn geriet nach ihm. Hochmut war ihm fremd.

Schweinsköpfe kommen im Rudel

Barrie Kosky geht der konstitutiven Folklore im Stück aus dem Weg. Die Bühne ist leer, Dekoration ist nicht vonnöten, und die Kostüme sind nur andeutungsweise „russisch“. Drastisch geht es allein in den Hexensabbatszenen und albtraumartigen Sequenzen zu. Da wiederum langt Kosky richtig zu, und lässt, als Jude, die Schweinsköpfe gleich im Rudel aufmarschieren. Wenn er sich die Finger dreckig macht, dann eben gleich richtig. Gleichwohl wirft die Berliner Kritik Kosky teils vor, er sei ja gar nicht mehr der „richtige“ Kosky, wie man ihn seit fünf Jahren vor Ort kenne, sondern „redlich, grundgütig, todernst, ja langweilig“ geworden.

Man muss die Meinung nicht teilen, kann aber begreifen, wie sie zustande kam, denn schließlich hat Kosky, der in Europa zunächst in Wien am Schauspielhaus Fuß fasste (2008 inszenierte er erstmals an der Komischen Oper, „Kiss me, Kate“), einiges dafür getan, dass ihm der Ruf eines Paradiesvogels anhaftet. Von Anfang an bestand er in der Komischen Oper auf dem Grundsatz des „Open House“. Jeder sollte kommen können, Karten im Preis bei 8 Euro beginnen und bei 80 aufhören. Untertitel gab es, wie in amerikanischen Theatern in die Lehne des Vordersessels integriert, auch auf Türkisch. Nicht, dass jetzt auf einmal ganze Busladungen gekommen wären, aber: „Angebot, oder?“, sagte Kosky stets. Seine Spielpläne sind Kunterbuntzettel, Schönbergs „Moses und Aron“ geht, muss gehen, zusammen mit „Zauberflöte“ und „West Side Story“; nebenher konnte er den ehemaligen Hang der Berliner zur Operette reaktivieren: mit schrillen, aber nicht kreischigen Inszenierungen, die eines nicht kennen: Berührungsangst. Was er nicht mag, ist eine in Deutschland im Range der Königsklasse geführte Übung: Kategorisieren. Was die Leute denken, wiederholt Kosky oft in seiner eigenen, schnellen Denglish-Variante, „it’s up to them“.

Auseinanderstetzung mit jüdischen Identitäten

Nachfrage hat die Komische Oper reichlich. Sie hat sich seit den Jahren unter Andreas Homoki (2004-2012), der seinerzeit nach Zürich wechselte, von sechzig auf fast neunzig Prozent Auslastung gesteigert. Das hat auch ein bisschen damit zu tun, dass die Lindenoper (umbaubedingt eingeschränkt im Exil im Schiller-Theater) nur wenig anbieten kann und die Deutsche Oper schon oft ein wenig gestrig daherkommt. Und viele Menschen, die in die „Komische“ gehen, gehen halt nur in die „Komische“. Koskys Vertrag jedenfalls ist, vom Senat aus wie umgekehrt mit Freuden, schon mal bis 2022 verlängert worden, und er wird die Zeit nutzen, denn er kann, so spontan und spielerisch Manches wirkt, in Zusammenhängen denken.

Auch der Jahrmarkt von „Sorotschinzi“ findet wahrscheinlich nicht ganz zufällig gerade jetzt statt, steht Kosky im Sommer doch vor einer ziemlichen Herausforderung, der er sich eigentlich nicht mehr stellen wollte. Katharina Wagner, Stammgast in der „Komischen Oper“, hat sich von Kosky eine neue Interpretation der „Meistersinger von Nürnberg“ für die Bayreuther Festspiele gewünscht, was diesem nicht direkt einleuchten wollte. Hatte er nicht mit Wagner abgeschlossen? Ein „Ring“ in Hannover, „Tristan“, „Holländer“.

Andererseits hat Kosky immer wieder die Auseinandersetzung mit jüdischen Topoi und Identitäten gesucht, wie auch jetzt bei der Mussorgski-Premiere. Mit dem Kunstgriff der Anleihe bei Rimski-Korsakow - also ganz einfach, aber man muss drauf kommen – zwingt er den Rest der Konstruktion in die Knie, wo er ihn, halbhoch, komisch weiterleben lässt. Das ist bei den „Meistersingern“ mit dem böse zur Karikatur verzeichneten Beckmesser derart nicht zu erwarten, aber Kosky sagt, er habe allemal eine Idee, wie er an den Klischees vorbeikommen könne. Koskys Inszenierungen sehen oft einfach aus, was nicht heißt, dass die Regie vorher nicht genug gedacht hätte. Und manchmal reichen, siehe oben, ja einfach ein paar Lichter, die man jenen Dingen aufsteckt, die düster sind und gefährlich auch. Kosky kann der freundlichste Mann der Welt sein, aber er hatte schon immer einen durchdringenden Blick, und es wäre eh an der Zeit, dass die „Meistersinger“ mal wieder richtig geröntgt würden.