Der Psychologe Jan Kizilhan erklärt den Unterschied zwischen einem Terroristen und einem Amokläufer. Die derzeit gehäuften Gewalttaten erstaunen den Fachmann nicht.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Stuttgart - Es gibt keine einfachen Erklärungen dafür, weshalb ein Mensch zur Waffe greift und um sich schießt. Für Jan Kizilhan gehört es allerdings zum Beruf, sich auf die Suche nach den Gründen für solche Bluttaten zu machen. Der Psychologe ist Professor an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg und leitet dort den Studiengang für Soziale Arbeit mit psychisch Kranken. Er ist wenig erstaunt darüber, dass es im Moment immer wieder zu Anschlägen kommt. „In einer Atmosphäre des allgemeinen Terrorismus kommen diese Menschen eher auf die Idee, gewalttätig zu werden“, sagt Kizilhan. Die Gefahr von Nachahmungstätern sei also sehr hoch.

 

Trennung zwischen Terror und Amoklauf

Allerdings macht der Professor eine klare Unterscheidung zwischen Terroranschlag und Amoklauf. Amokläufer seien fixiert auf sich selbst, die eigenen Probleme, die von außen erfahrene Demütigung. Diese Menschen hätten fundamentale Schwierigkeiten mit dem Selbstwertgefühl. „Sie empfinden Wut und Hass auf die Welt und kommen damit nicht zurecht“, erklärt Kizilhan. Und weiter: „Durch das Töten bekommt ein Amokläufer Macht über einen Menschen – er fühlt sich Gott-gleich.“

Jan Kizilhan Foto: privat
Ein Terrorist habe eine ganz andere Motivation zu Töten, erklärt der Psychologe. „Der Terror des IS ist politisch und religiös motiviert. Getötet wird mit der Absicht, Gutes zu tun – auch über den eigenen Tod hinaus.“ Natürlich gebe es bei beiden Typen Berührungspunkte. Auch ein Terrorist könne aus einer „Selbstwertproblematik“ heraus radikalisiert werden. Und auch ein Amokläufer könne sich einen ideologischen Überbau für seine Tat zusammenbasteln. Als Beispiel dafür nennt Kizilhan den Norweger Andres Breivik. In eine noch andere Kategorie falle wohl der Mord in Reutlingen. „Nach allem, was wir im Moment wissen, ist das eher eine Art Ehrenmord“, sagt Jan Kizilhan. Da geht es um Respekt, zurückgewiesene Zuneigung einer konkreten Person und verletzte Ehre.

Vor allem junge Männer als Täter

Wenig erstaunlich ist es in den Augen des Experten, dass vor allem junge Männer zu den Tätern zählen. „Wir leben noch immer in einer von Männern dominierten Gesellschaft. Das heißt, wir verhalten uns geschlechterspezifisch“, beschreibt der Professor. Männer reagierten aggressiv, Frauen eher kommunikativ-zurückhaltend. Und auch für die Tatsache, dass kaum ältere Männer zu Tätern werden, hat er eine Antwort: „Die haben die Zeit des Aufstandes längst hinter sich.“

Die Gesellschaft sei der steigenden Zahl von Anschlägen nicht hilflos ausgeliefert. Jan Kizilhan unterstreicht, dass viele Täter „vom System aufgefangen“ werden könnten. Konkret heißt das: die potenziellen Täter zeigten in ihrem sozialen Umfeld schon früh eine höhere Verhaltensauffälligkeit. Oft seien es Einzelgänger, sie hätten große Schwierigkeiten, sich mitzuteilen oder in die Gemeinschaft einzufügen. Er fordert etwa, dass in den Schulen mehr auf solche Entwicklungen geachtet werde. „Psychologen könnten rechtzeitig eingreifen und mit den jungen Leuten reden“, sagt Jan Kizilhan. „Unsere Verantwortung ist es, im Umfeld wach zu sein.“

Wichtig ist Gelassenheit

Der Psychologe rät der Gesellschaft, trotz der vermeintlich erhöhten Bedrohungslage ruhig zu bleiben. „Die subjektive Angst ist da, dem müssen wir mit Rationalität begegnen.“ Hier sieht er vor allem die Politiker – und auch die Medien – in der Pflicht. Es müsse immer wieder erklärt werden, dass es sehr unwahrscheinlich ist, Opfer eines Attentates zu werden. Natürlich sieht Kizilhan die Gefahr, dass internationale Terroristen auch in Deutschland mit schweren Attentaten zuschlagen könnten. „Am Anfang würde sich Hysterie, Panik und Angst verbreiten“, sagte er, „aber wir würden schnell lernen, damit zu leben. Das ist wie das Leben im Krieg, an das die Menschen sich gewöhnen. Wir werden unser Verhalten daran anpassen.“

Was die AfD im Fahrwasser der Anschläge betreibt, hält der Psychologe für extrem kontraproduktiv. „Die Äußerungen der AfD-Vertreter schüren gezielt die Angst der Menschen.“ Das sei Gift für die ganze Gesellschaft. Kizilhan bringt den Ablauf in ein einfaches Bild: „Wir haben Angst, sind verunsichert, schlafen schlecht, werden noch nervöser, sind böse zu unseren Nachbarn, zur Familie und natürlich auch zu Migranten.“ Er unterstreicht wiederholt, dass die einzige Lösung sei, rational auf die vermeintliche Bedrohung zu reagieren.