Seit einem Vierteljahrhundert sind Göppingen und Sonneberg ein Städtepaar. Die Beziehung läuft gut –ist aber harte Arbeit.

Region: Verena Mayer (ena)

Das Ziel der Reise ist noch elf Kilometer entfernt, als der riesige schwarze Bus auf einen Parkplatz fährt und der Fahrer den Motor abschaltet. Es ist still. Vor und hinter dem geschotterten Parkplatz breiten sich nackte Felder aus. Ein paar Häuser stehen an der Durchgangsstraße, die so schmal ist, dass es kein Bus in einem Rutsch um die Kurve schafft. Der Landgasthof, zu dem der Parkplatz gehört, sieht noch geschlossen aus. Sodele, Endstation! Alle aussteigen in Neustadt-Wellmersdorf, Oberfranken, Bayern.

 

Die Besucher aus dem schwäbischen Göppingen hätten gerne im thüringischen Sonneberg Quartier genommen. Dort, wo sie den allergrößten Teil dieses letzten Wochenendes im September verbringen – und wo es eigentlich auch jede Menge Unterkünfte gibt. Erst an diesem Morgen hat ein neues Hotel eröffnet, ein einzigartiges Spielzeughotel. Aber wie in allen anderen Häusern in der Stadt gibt es auch dort keinen Platz mehr für 22 Gäste aus Göppingen. Ausgebucht! Stadt- und Museumsfest! Ausnahmezustand! Darum also erst mal Endstation in der Pampa. Komisch ist das schon: Der Ausflug in den Osten endet vorerst im Westen. Wie früher. Die Ausflügler aus Göppingen sind alt genug, um sich zu erinnern, wie das damals war, als eine Grenze Deutschland teilte. Und als eine Reise nach Sonneberg kompliziert war.

Silberhaarig zur Silberhochzeit

Göppingen und Sonneberg begehen in diesem Jahr das 25-jährige Bestehen ihrer deutsch-deutschen Städtepartnerschaft. Im September 1990 haben die Gemeinderäte der beiden Kommunen höchstfeierlich die Partnerschaftsurkunden unterzeichnet. Die, die damals dabei waren, sagen, sie seien dankbar und glücklich, dass sie das erleben durften. Doch inzwischen sind die, die damals dabei waren, auch 25 Jahre älter und silberhaariger geworden. Deshalb haben die Reisenden auch eine bange Frage im Gepäck: Wie lange bleibt die Erinnerung lebendig?

Als die mittelgroße Reisegruppe in Göppingen aufgebrochen ist, war es noch dunkel. Jetzt, 350 Kilometer von der Heimat entfernt und viele Stunden später ist es nur unwesentlich heller. Am Himmel über der Sonneberger Innenstadt hängen dichte graue Wolken, der Wind weht extrem frisch. Aber egal, Hauptsache kein Regen. Böllerschüsse zerreißen die Luft, ein Blasorchester spielt auf, Gaukler balancieren über hohe Seile, Zuschauer in warmen Jacken schieben sich durch die Straßen. Feststimmung in Sonneberg.

Auf einer kleinen Bühne schüttelt eine Frau in einer weiß-rot karierten Bluse Kuhglocken. Kenner erkennen in dem Gebimmel die Melodie des Rennsteiglieds, die heimliche Hymne Thüringens. Hans Haller erkennt in der bimmelnden Frau Christine Zitzmann, die Landrätin des Kreises Sonneberg. Als Hans Haller Christine Zitzmann das allererste Mal traf, war er noch Oberbürgermeister von Göppingen, und sie hatte sich gerade entschieden, nicht mehr als Krankenschwester zu arbeiten, sondern als Sozialdezernentin der Stadt Sonneberg. Was sie dafür auf die Schnelle wissen musste, lernte sie in Göppingen. Wie berechnet man Sozialhilfe, wer bekommt so etwas überhaupt? Was ist mit Wohngeld? Und so weiter.

Ein Sechser im Lotto

Wochenlang hospitierte Zitzmann im Göppinger Rathaus und sog alles auf, was sie sah und hörte. Ebenso ihre neuen Sonneberger Kollegen, die lernten, dass ein Bebauungsplan offengelegt werden muss, wie ein Haushaltsplan gegliedert zu sein hat, was ein Gemeinderat zum Arbeiten braucht. Was ist ein Verwaltungsakt? Was bedeutet kommunale Daseinsvorsorge? Wie funktioniert Gewaltenteilung? Auf all ihre Fragen bekamen die Sonneberger von den Göppingern Antworten. Zuzüglich anhängerweise elektrische Schreibmaschinen, Kopierer, Rechengeräte und sogar ein Funktelefon, weil auf die alten Leitungen überhaupt kein Verlass war. Annäherung durch Wandel sozusagen.

Annäherung mit Anlaufschwierigkeiten

Wäre es nach den Göppingern gegangen, hätte eine Annäherung schon viel früher beginnen können. Bereits Mitte der 80er Jahre hatte der Gemeinderat die Nähe zu Sonneberg gesucht. Sonneberg, haben die Göppinger damals recherchiert, war wie Göppingen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer reichen Stadt geworden. Viele kleine Handwerksbetriebe hatten sich in erfolgreiche Industrieunternehmen verwandelt. Sonneberg schuf sich mit der Produktion von Puppen und Plüschtieren einen Namen als „Spielzeugstadt“, Göppingen ist die Heimat des Modellbahnherstellers Märklin. Zudem liegen die Orte inmitten einer reizvollen Landschaft. Dass beide auch mal ein Problem mit Neonazis bekommen würden, war damals natürlich noch nicht bekannt. Doch die Bewerbungsunterlagen vom Fuße der Schwäbischen Alb trafen ohnehin nie am Südhang des Thüringer Waldes ein. Dafür sorgte das Regime in Ostberlin. So kam die kommunale Wahlverwandtschaft erst nach der Wende zustande.

„Das war ein Sechser im Lotto“, schwärmt Christine Zitzmann, die ihre Kuhglocken beiseite gestellt hat und Hans Haller um den Hals gefallen ist. In ihren Augenwinkeln schimmern Tränen. Hans Haller, der ehemalige Oberbürgermeister, sieht sehr, sehr glücklich aus.

Neckereien unter Freunden

Bernhard Hess greift in seine Tasche und zieht ein beigefarbenes Päckchen heraus. Seine jüngste Erwerbung: ein Paar Thüringer, fertig gebraten und luftdicht eingeschweißt. Die muss er daheim in Göppingen nur noch warm machen. Das schmeckt fein, schwört er. Ilona Abel-Utz befördert aus ihrer Tasche einen kleinen Plüschteddy – von Plüti, einer der Traditionsfirmen, die es nach der Wende schwer gebeutelt hat. „Schön, wenn ihr bei uns einkauft“, sagt Wilhelm-Rainer Häusler, der ehrenamtliche Beigeordnete Sonnebergs. Er lacht dabei. So viel Neckerei darf sein. Ansonsten lässt Häusler nichts auf die westdeutsche Verwandtschaft kommen. Ein Göppinger Züchter hat ihm einst sogar zwölf seiner besten Brieftauben geschenkt. „Ganz ohne Konkurrenzgedanken!“

Bernhard Hess, der Wurstliebhaber, ist für den nächsten Morgen mit seinen Freunden in der Kleingartenanlage Pistor verabredet. Mal hören, wie die mit dem Gartenjahr zufrieden waren. Und mal gucken, wie sich die Freundschaftslinde entwickelt hat, die die Göppinger Gartenfreunde, deren Chef Hess lange war, vor vielen Jahren gepflanzt haben.

Thüringer Spezialitäten im Ländle

Bei Ilona Abel-Utz kann man eh nicht sicher sein, ob sie nicht längst Sonnebergerin geworden ist – so oft, wie sie schon dort war. Der letzte Besuch liegt erst vier Monate zurück. Und wenn sie daheim in Göppingen ist, dann kocht sie auf Stadtfesten Thüringer Klöß, organisiert Plüschtier-Stopfen auf dem Weihnachtsmarkt und sorgt dafür, dass auf dem (von ihr initiierten) Sonneberger Platz Holzpferde für Kinder aufgebaut werden, und zwar in Gestalt des berühmten Sonneberger Reiterleins. Ilona Abel-Utz war als Grünen-Stadträtin Mitbegründerin dieser Städtepartnerschaft. Heute ist sie Sprecherin des Arbeitskreises Sonneberg in Göppingen, der vor knapp 20 Jahren als lebenserhaltende Maßnahme eingerichtet wurde. In Sonneberg entstand im Gegenzug der Arbeitskreis Göppingen.

Mitte der 90er Jahre war der west-östliche Austausch nicht mehr ganz so rege wie direkt nach der Wende. Die jungen Demokraten brauchten keine Entwicklungshilfe mehr, und die alten hatten auch anderes zu tun. Das einige Deutschland erschien normal geworden. So geschah in der Göppinger-Sonneberger Partnerschaft, was in vielen der mehr als 1000 rasch gegründeten deutsch-deutschen Partnerschaften geschah: Das Feuer drohte auszugehen.

Doch so weit wollte es in Göppingen und Sonneberg niemand kommen lassen. Ein klärendes Gespräch führte schließlich zu den Arbeitskreisen, und diese wiederum brachten frischen Wind in die Beziehung. Göppinger Basketballer trafen sich mit Sonneberger Basketballern. Sonneberger Radler strampelten über die Alb, Göppinger durch das Schiefergebirge. Sonneberger lieferten Göppinger Kindergärten Spielsachen, Göppinger bestückten die Sonneberger Bibliothek mit Büchern aus dem Stauferland. Außerdem gondelt in den geraden Jahren ein sogenannter Bürgerbus für ein Wochenende nach Göppingen, in den ungeraden einer nach Sonneberg. Nicht einmal die Schließung des Märklin-Werks in Sonneberg 2007 konnte die so stabilisierte Beziehung nachhaltig erschüttern. „Die Organisation ist eine Riesenarbeit“, sagt Traudel Garg, die in Sonneberg den Arbeitskreis Göppingen leitet und das Programm für das aktuelle Festwochenende zusammengestellt hat. „Aber“, spricht sie weiter, „so lebt die Partnerschaft.“

Die Frage ist: Wie lange noch?

Das Feuer soll brennen

Traudel Garg ist jetzt 72 Jahre, Ilona Abel-Utz 65. Die Mitstreiter in ihren Arbeitskreisen sind nicht arg viel jünger. Und so rasch die Plätze der jährlichen Bürgerbusse auch jedes Mal ausgebucht sind, bei den Ost-West- und West-Ost-Reisenden handelt es sich fast ausnahmslos um ältere Semester. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man auch die Delegation, die sich an diesem Jubiläumswochenende auf dem Juttaplatz zum Gruppenfoto versammelt, auf den ersten Blick für eine rüstige Seniorentruppe halten.

Gestank und Herzlichkeit

Natürlich ist Traudel Garg sehr besorgt, dass die Partnerschaft eines Tages vielleicht doch nur noch auf dem Papier bestehen könnte. Und natürlich weiß Ilona Abel-Utz, dass der fehlende Nachwuchs ein Problem ist. Nur: die Lösung ist verdammt schwierig! Mit einer Klassenfahrt nach Sonneberg kann man keinen locken. Da erscheint Foggia, die italienische Partnerstadt von Göppingen, doch sehr viel reizvoller. Ein Sprachkurs ergibt ja wohl allenfalls in Pessac einen Sinn, der französischen Partnerstadt von Göppingen. Die Brieffreundschaft zwischen einer Grundschule hier und einer dort hat ja auch nicht lange gehalten. Sowieso und überhaupt: Deutschland ist ein Land – so what?

Als die Grenze noch dicht war, musste Traudel Garg einen Antrag stellen, wenn sie Sonneberg verlassen wollte. Zum Beispiel, um Eltern ihrer Schüler im Nachbarort besuchen zu können. Sonneberg war wegen seiner räumlichen Nähe zum Westen Sperrzone. Die Bürger waren quasi doppelt eingesperrt.

Als Wilhelm-Rainer Häusler, der Taubenzüchter und ehrenamtliche Beigeordnete, noch jung war, bekam er mal für ein paar Tage Schulverbot, weil er dem Lehrer widersprochen hatte. „Der Kapitalismus ist ein Übel“, hatte der Lehrer sinngemäß gesagt. Häusler, der einen Onkel in Niedersachsen hatte, sah das anders.

Als Ilona Abel-Utz das erste Mal nach Sonneberg kam, stachen ihr sofort die Ausdünstungen der Braunkohleöfen in die Nase und die vergammelnden Fassaden ins Auge. Und ihr fiel die Herzlichkeit der Menschen auf.

Als Hans Haller, der damalige Göppinger OB, Sonneberg das erste Mal besuchte, fand er kein Lokal, in dem er essen konnte. Auf den Schildern in den Restaurants stand „Geschlossen“ oder „Alle Plätze besetzt“. Und er bemerkte eine fast unglaubliche Offenheit bei seinen Gesprächspartnern.

Als die Stadträte der beiden Städte zum ersten Mal zusammen an einem Tisch saßen und ihre ganz persönliche Wiedervereinigung feierten, sind viele Tränen geflossen. Deutschland ist nicht schon immer ein Land gewesen. „Ich hoffe, dass es immer Menschen gibt, die die Erinnerung daran wachhalten“, sagt Christine Zitzmann, die musikalische Landrätin.

Zukunftsmusik

Vielleicht klappt es ja mit den Plänen für einen Schullandheimaufenthalt. In Sonneberg wurde aus einer Spielzeugfabrik eine abenteuerliche Outdooranlage inklusive Gästehaus. „Wir sind dran“, sagt Ilona Abel-Utz. Und vielleicht kommt ja sogar ein Austausch zwischen den beiden Musikschulen zustande. Am Abend des Stadtfests gibt im Sonneberger Gesellschaftshaus eine Combo aus Göppingen ein umjubeltes Konzert. Der erste Schritt? Wer weiß.

Nur eine Woche später, am Tag der Deutschen Einheit, wird schon wieder eine Gruppe aus Göppingen in Sonneberg zu Gast sein. Bei der zentralen Einheitsfeier der ehemaligen Grenzregion präsentiert sich Göppingen als wunderbares Reiseziel.

Das Allerschönste dabei: es ist ganz leicht zu erreichen.