In Villingen-Schwenningen repariert ein Russlanddeutscher Schuhe, Taschen, Uhren – und so manche Seele.

Villingen-Schwenningen - Baba Ali sitzt in Strümpfen auf dem Schemel mit dem weißen Lederbezug. Der Türke, Anfang 70, grauer Oberlippenbart und Schiebermütze, kommt jeden Tag auf seinen Gehstock gestützt in die Färbergasse Nummer 4 in der Innenstadt Villingens. Es ist kurz nach zehn. Er hat viel Zeit, jetzt, da seine Frau gestorben ist. Baba Ali wartet auf seine dunkelbraunen Slipper. Er lässt sie polieren von der Hardo-Ausputzmaschine. Manchmal hat Großvater Ali auch eine richtige Arbeit für Wilhelm Felde. Eilig hat er es nie, das ist so gewiss wie sein täglicher Besuch. Meistens kommt er für einen Schwatz in das Geschäft des Schuhmachers. Der Herr Felde, muss man wissen, ist in Villingen mehr als nur ein Schuster. Er ist eine Institution.

 

Eine Kundin, konservative Endfünfzigerin, betritt Wilhelm Feldes Laden. „Ich habe da einen Schuh gekauft . . .“ (zeigt einen Damenschuh) – „Nur einen?“ – Kundin (verunsichert): „Nein, schon zwei . . .“ – „Und?“ – „Er drückt . . .“ – „Mache wir da die Welt größer – oder halt die Schuh? – „Die Schuhe . . . oder?“ – „Also gut, die Schuh!“

Wilhelm Felde, 48 Jahre alt, Russlanddeutscher. Geboren und aufgewachsen am Rande von Bischkek, der Hauptstadt von Kirgisistan. Katharina die Große hat seine Vorfahren Ende des 18. Jahrhunderts an der Wolga angesiedelt. Stalin hat sie nach Sibirien deportieren lassen. Danach kamen sie nach Kirgisistan, das im Südosten an China grenzt. Wilhelm hätte gern studiert, Maschinenbau oder Elektronik, darin war er gut. Dann lernte er doch Schuhmacher, wie sein beiden Großväter und die Brüder.

Eine Zulassung zum längeren Schulbesuch und Studium war für Russlanddeutsche schwer zu bekommen. Die Armee aber hat den 1,64 Meter kleinen Gefreiten schon gebrauchen können. Aber nur im Straßenbau. Und als Schuhmacher.

Seine Maschinen kauft er gebraucht

Im Jahr 1990 kommt die Familie mit der großen Ausreisewelle in den Schwarzwald, wo schon Verwandtschaft ist. Felde findet Arbeit bei Mister Minit in einem Einkaufszentrum. Nach ein paar Jahren hat Felde seinen eigenen Laden. Das Geschäft in der Villinger Färbergasse hatte leer gestanden und war ihm angeboten worden. Felde verschuldet sich, kauft die Maschinen zusammen, gebraucht natürlich. Darunter ist auch die 60 Jahre alte Adler-Industrienähmaschine, auf der er gerade mit schwarzem Garn einen Reißverschluss an einem Damenschuh flickt.

Felde repariert Schuhe, Taschen, und wenn es sein muss, flickt er auch die Schiebermütze von Baba Ali. Er kann nicht Nein sagen, wenn die Leute mit ihrem abgetragenen Fußwerk kommen, und sei der Fall noch so hoffnungslos. Das hat sich herumgesprochen. Felde klebt auch Bommel an Ballerinas und näht neue Henkel an alte Rucksäcke. Felde fräst auch Schlüssel und setzt Batterien in Uhren ein. So wie damals bei Mister Minit. Wenn ein Zeitmesser mal nicht laufen mag, macht er ihn wieder heile. Und hört sich nebenbei an, wo den Kunden sonst noch der Schuh drückt.

Wer mag, darf auch abledern. Über das Wetter, die Politik oder das Leben überhaupt. Denn der Mensch will reden. Wenn nicht, bringt Felde ihn dazu. Der Werkstattphilosoph hört jedermann und jeder Frau aufmerksam zu und gibt ein freundliches Wort, einen lockeren Scherz oder einen Wahlspruch mit in ihren Tag. Manchmal lässt Felde einen absichtsvollen Ausländerdeutsch-Singsang erklingen. Dann wieder lässt er ein paar Brocken Türkisch einfließen. Das hat der Russlanddeutsche in seiner alten Heimat aufgeschnappt. In Kirgisistan gehören zwei Drittel der Einwohner den Turkvölkern an. So wechseln sich tiefgründige Psychologie mit belanglosem Alltagsschwatz ab, blitzen perlende Aperçus und weltweise Werkstattweisheiten auf und verlöschen wieder. Vermutlich weiß er es gar nicht, aber Wilhelm Felde betreibt auch einen Reparaturbetrieb für die Seele.

Feldes Preise sind immer Sonderangebote

Die Naht ist fertig. Die Kundin will zahlen. „Was macht das?“ – „Zwei Euro.“ – „Nur so viel? Nicht mehr?“ – „Wollen Sie mehr zahlen?“ – Nein, nein, aber es ist so billig.“ – „Also gut, zwei Euro.“

Felde wirft das Geld in die Kasse, wo Zangen, Locher und Lederreste für den nächsten Einsatz bereitliegen. Er könnte mehr verlangen. Aber dann würden vielleicht Kunden wegbleiben. Er hat lieber den ganzen Tag zu tun. Morgens um neun kommt er, um sechs abends sperrt er zu. Von eins bis zwei ist Mittag. Manchmal, wenn er zu viel geschwätzt hat mit der Kundschaft, muss er abends ein oder zwei Stunden dranhängen und Liegengebliebenes aufarbeiten. 50 Kunden kommen am Tag. Das heißt, früher war das so. Doch seit Herr Felde bekannt geworden ist, werden es immer mehr. Fast drei Dutzend sind es allein zwischen zehn und zwölf.

Felde macht ganz, was andere kaputt machen. Seine Arbeit stört die Gesetze des Marktes. Denn Altes soll auf den Müll, damit Neues gekauft werden kann. Feldes Arbeit ist, wenn man so will, ein Statement gegen die materialistische Warenwelt, ein Auflehnen gegen die nihilistische Wegwerfgesellschaft. Hier hat das Ding an sich noch einen Wert an sich.

Das einfache Leben in Kirgisistan

Felde sagt, er könne nicht anders. Früher, unter den Sowjets, hatten sie immer improvisieren müssen. Felde repariert auch seine Autos ganz allein. Der 14 Jahre alte Chrysler Voyager, der mit 235 000 Kilometern noch nicht den Geist aufgeben will, hat noch nie einen Automechaniker gesehen. „Mache mer alles selbst.“ Wie in Kirgisistan, wo es keine Ersatzteile gab und man sich alles zusammenschweißen musste. „An Schuhen hatten alle drei Paar – mehr nicht. Alle vom Schuster angefertigt. Wenn sie kaputt waren, brachte man sie wieder zum Schuster.“ Da kam nichts weg.

Auch im kapitalistischen Westen gibt es genügend Frauen, die sich nicht von ihren krumm gelaufenen Ballerinas oder abgebrochenen Pumps trennen können. Oder von den ausgefransten Sandaletten, den ramponierten Stiefeletten. Auch Männer hängen an den uralten, rissigen Wander-, den aufgerissenen Turn- oder den abgelaufenen Halbschuhen. Wer sie vor dem Mülltod retten will, der kommt zu Felde. Zurückgewiesen werden nur die völlig aussichtslosen Fälle.

Selbst für den ausgelatschtesten Treter weiß der Meister einen Weg der Heilung. Gerade erst hat er einem gedämpften Turnschuh, dem die Luft ausgangen war, wieder neues Leben eingehaucht. Und einer angejahrten Dame hat er mit dem neuen Absatz für ihren Orthopädiehalbschuh neue Standfestigkeit verliehen. Zudem hat er der Discogängerin, die mit einem abgebrochenen Absatz ankam, die Nacht gerettet. Die reparierten Paare stehen für die Kunden Spalier. An die fünfzig warten aufgereiht links der Theke auf die Abholer. Weitere Dutzend befinden sich im Lager.

Ein ausstrebendes Metier

Eine Mittzwanzigerin mit langem Haar will ihre Stiefel reparieren lassen. „Ich hab aber kein Geld“ (sie meint: „kein Geld dabei“) – „Wenn Sie kein Geld haben, müssen sie ein bissle singe für mich.“

„Traurig sein bringt nichts“, lautet Feldes Credo. Seine Auffassung vom Schustermetier als fröhliches Handwerk hat ihm Kundschaft aus dem ganzen badischen Villingen und selbst aus dem ungeliebten württembergischen Stadtteil Schwenningen eingebracht. Das mag auch daran liegen, dass Felde eine Art regionaler Filmheld geworden ist. Irgendwann hatte der Filmemacher und SWR-Hörfunkredakteur Klaus-Peter Karger von dem Schuhmacher erfahren und bald danach einen 55-minütigen Dokumentarfilm begonnen. „Herr Felde und der Wert der Dinge“ lautet der Titel. Felde hat sich erst ein wenig gesträubt, dann aber doch mitgemacht.

Der von der baden-württembergischen Filmförderung geförderte Streifen ist schon mit großem Erfolg in den regionalen Kinos in Villingen-Schwenningen, Triberg, Offenburg und Rottenburg gelaufen. Vom 23. Mai an ist er in Esslingen, vom 7. Juni an in Freiburg und vom 22. Juni an in Pforzheim zu sehen. Davor wird er noch bei einem Festival im sächsischen Zittau, der Partnerstadt Villingen-Schwenningens, gezeigt. Es handelt sich um eine Art filmische Miniatur, eine Art Kammerspiel, bei dem sich die Kamera auf Felde und seine Kundschaft konzentriert. Der SWR-Filmkritiker Herbert Spaich nennt den Streifen ein kleines Meisterwerk. Karger sei, ohne dem Protagonisten zu nahe kommen, ein „immer respektvoller Blick auf einen ungewöhnlichen Menschen“ gelungen.

Kein Nachfolger in Sicht

Baba Alis Slipper sind jetzt blitzeblank geputzt. „He, Baba Ali, Schuhe sind fertig“ – „Was du willst habe?“ – „Danke, nix.“

Ist der Herr Felde ein Solitär? Wird es einen wie ihn noch lange geben? Oder stirbt sein Metier aus? Felde ist Vater von fünf Kindern, aber ein Nachfolger ist nicht in Sicht. Seine älteste Tochter studiert Jura. Bei den anderen wird man sehen, sagt er. Was er sich vom Leben wünscht? Geld, Glück, Ruhm? „Nichts, danke, hab alles, was ich brauche. Kinder, Frau, alles schon da.“ Das Glück, soll das uns wohl sagen, ist immer da. Man muss es nur erkennen.