Nichts ist unmöglich: Die StZ-Mitarbeiterin Ariana Zustra erzählt, wie ihre Familie es schafft, ohne Auto zu überleben.

Überlingen - Meine Familie ist ganz normal. Wir sind nicht vorbestraft, zahlen unsere GEZ-Gebühren, gucken hin und wieder „Wetten, dass . . .?“ und gehen samstagmorgens auf den Wochenmarkt. Und wir haben kein Auto und auch keinen Führerschein, meine Mutter nicht, mein Vater nicht, ich nicht.

 

Wenn wir das sagen, reagieren Menschen manchmal, als kämen wir aus dem Dschungelcamp. Man kann keinen Fernseher haben, keine Freunde, keine Ehre – aber keinen Führerschein? „Wie kann man denn so überleben?“, entgegnen uns dann einige – halb entsetzt, halb mitleidig. Meine Eltern und ich verfügen, Gott sei Dank, über jeweils zwei gesunde Beine, Atmung und Herzschlag sind gleichmäßig, zudem nehmen wir in regelmäßigen Abständen Nahrung auf – so gesehen, hat das Überleben bis jetzt gut geklappt.

Meist schließt sich die Frage an, wie wir diese Nahrung beschaffen. Das spielt sich folgendermaßen ab: Wir gehen in den Supermarkt, suchen uns etwas aus, bezahlen und bringen die Einkäufe dann nach Hause. Diese Vorgehensweise hat sich bis jetzt ebenfalls als erfolgreich erwiesen. Meine Eltern, 55 und 50 Jahre alt, ziehen mit einem zweifachbereiften Trolley los, ich schnalle meinen Rucksack auf oder verstaue Kartoffeln und Dinkelbrot auf dem Fahrradkorb. Bierkästen kaufen wir nie, nur ab und zu eine Flasche Wein, und Wasser trinken wir gern aus der Leitung. So kann man natürlich keine großen Vorräte anhäufen. Nach zwei Tagen ist schon mal die Milch leer, dann holt man sich auf dem Heimweg von der Arbeit neue.

Manche Leute schauen schon irritiert, wenn meine Mutter das Omawägelchen hinter sich herzieht. Andere kann sie wenigstens zum Lachen bringen. So wie den Taxifahrer, dem sie mal vor einem Baumarkt den Rücksitz mit Brettern vollgestapelt hat. Ein Blickfang ist auch, wie sie alljährlich den Weihnachtsbaum aufs Fahrrad schnallt und den Berg hochschiebt.

Kindheitserinnerungen von Zugfahrten in den Urlaub

Glücklicherweise gelangt man auch ohne Führerschein von einem Ort zum anderen. Zu Fuß oder auf dem Fahrrad, per Bus oder Bahn. Sei es zur Arbeit, in die große Stadt oder in den Urlaub. Für mich sind es wunderschöne Kindheitserinnerungen, wie wir mit dem Zug in die Sommerferien ans Meer fuhren. Wir fläzten in einem Abteil, das wir ganz für uns und unsere vier, fünf Koffer hatten, mampften belegte Brote, spielten „Ich sehe was, was du nicht siehst“ und ließen den Blick über vorbeiziehende Felder, Flüsse, Berge schweifen.

Er würde sich nicht gern stundenlang hinters Steuer klemmen und auf die Autobahn konzentrieren, sagt mein Vater immer. Er genießt viel lieber die Ruhe einer Zugfahrt, dass er ein gutes Buch lesen kann. Meine Mutter freut sich über nette Gespräche mit Reisenden. Auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen zu sein bedeute nicht unbedingt weniger Freiheit, sagt mein Vater. Ein Auto sei eine so große Investition. Man muss es tanken, pflegen, versichern, reparieren. Wo bleibe da die Freiheit? Von den Kosten ganz zu schweigen.

Mit Zug und Bus dauert alles viel länger, heißt es. Der Deutsche spart ja gern, auch seine Zeit. Die Schweizer haben Uhren, die Kroaten haben Zeit, sagt mein Vater gern. Er stammt aus Dubrovnik, einem Küstenstädtchen in Dalmatien, wo der Schriftsteller George Bernard Shaw das „Paradies auf Erden“ gefunden zu haben glaubte. Tempo ist nicht gerade das herausragendste Merkmal waschechter Dalmatiner.

Freiwillig ohne Führerschein

Außerdem stimmt es nicht, dass man mit dem Auto immer schneller am Ziel ist, findet mein Vater. Im Berufsverkehr festzustecken oder morgens Eis zu kratzen beansprucht auch Zeit. Mit dem Auto ist man schon schneller, sagt meine Mutter. Aber wofür spart man seine Zeit auf? Sie geht gern zur Arbeit oder zum Supermarkt. Die Bewegung ersetzt die ein oder andere Stunde im Fitnessstudio. Der Weg ist das Ziel.

Wir leben also ohne Führerschein, freiwillig. Wir können abends immer trinken, aber leider niemanden nach Hause fahren, wir sammeln keine Punkte, weder in Flensburg noch im Tankstellenshop. Wir haben nichts gegen Autos, wir haben nur keins, weil wir keins brauchen. Vielleicht fehlt einem nicht, was man nicht kennt.

Mein Vater ist es gewohnt, ohne Auto zu leben, seine Eltern hatten auch keinen Führerschein. Während seiner Jugend in Dubrovnik besaß kaum eine Familie ein Auto. Dies war Luxus und kein Lebensziel, das junge Leute mit aller Kraft verfolgten. Die hatten anderes im Kopf: an flirrend heißen Sommertagen am Meer zu liegen, an lauen Nächten durch die Altstadt aus glänzendem Marmor zu flanieren.

Meine Mutter ist in einem Dorf in der Nähe von Kassel aufgewachsen – mit Auto, meine Oma fuhr einen grünen Renault 4. Sie zog drei Kinder allein groß, das Geld war stets knapp, zu knapp für einen Führerschein für die älteste Tochter. Doch meine Mutter hätte vermutlich ohnehin verzichtet. Denn als sie 13 Jahre alt war, hatte meine Oma einen Autounfall. Ein Müllauto hatte sie übersehen und seitlich aus der Renault-Tür geschoben. Wäre sie angeschnallt gewesen, wäre sie gestorben. Lange lag meine Oma auf der Intensivstation. Meine Mutter hatte damals immer den gleichen Albtraum: Sie fährt ein Auto, aber es hat kein Lenkrad und keine Bremse. Sie trägt die ganze Verantwortung für ihre Geschwister auf der Rückbank, dabei kann sie das Auto nicht fahren. Meine Mutter hat auch heute noch großen Respekt vor Menschen, die ein Fahrzeug lenken können, vor allem bei hoher Geschwindigkeit.

Keine echten Öko-Avantgardisten

Als sie von Dubrovnik nach Überlingen zogen, waren meine Eltern ein autofreies Leben gewohnt. Natürlich hatten sie auch Glück, dass ihre Arbeitsplätze wieder nur einen Spaziergang entfernt waren. Wenn man auf dem Land wohnt, ist ein Auto sicher notwendig, sagt meine Mutter. Meine Eltern zogen lieber ins Zentrum. Für andere ist ein Auto der Luxus, den man sich gönnt – für sie ist es die Wohnlage.

Zwar hat heute praktisch jeder einen Führerschein, aber immer mehr Menschen verzichten auf ein Auto. Zunehmend wandelt sich seine Bedeutung in der Gesellschaft. War ein eigener Wagen vor zehn, zwanzig Jahren noch das Statussymbol schlechthin, ist er heute nicht mehr selbstverständlich. Man lebt umweltbewusster, Autos werden geteilt, geliehen oder gar nicht erst gekauft. Benzin ist so teuer geworden, dass man es sich mittlerweile zwei Mal überlegt, ob man für eine Spritztour den Motor anschmeißen soll.

Immer öfter werden wir Zustras als „Öko-Avantgardisten“ bejubelt. Aber wir können uns nicht rühmen, aus Umweltgründen oder einer politischen Haltung heraus auf das Auto zu verzichten. Es hat sich halt so ergeben. Auch, dass ich vor sieben Jahren, als ich 18 wurde, keinen Führerschein gemacht habe, war keine Trotzaktion oder ein politisches Statement. Ich bin einfach nicht auf die Idee gekommen.

Für Autolose ist eine Autofahrt immer ein Event. Wenn ich nicht Zug fahre, nutze ich manchmal Mitfahrzentralen. Neulich hat mir einer junger Student in seinem Auto (blau war’s, keine Ahnung, welche Marke) auf der Fahrt von Überlingen nach Stuttgart sein Herz ausgeschüttet. Er müsse mal mit jemandem reden, sagte er. Und erzählte von dieser Frau und der Liebe, die er beide nicht verstand. Diese Fahrt war ein Erlebnis. Meine Mutter liebt es, wenn Freunde im Auto die Musik aufdrehen und durch die Landschaft brettern, für sie ein echter Genuss. Nur nicht auf der Rückbank: da wird ihr sofort schlecht.

Die Zustras gibt es nur als Beifahrer

Für Freunde ist es selbstverständlich, meine Eltern mal abzuholen oder mitzunehmen. Der beste Freund meines Vaters würde ihn auch nachts um drei überall hinfahren, wenn er seine Hilfe bräuchte. Geld ist da kein Thema. Dennoch revanchieren sich meine Eltern gern mit einem Abendessen. Für längere Strecken bieten sie Benzingeld an. Meine Mutter wird als Beifahrerin geschätzt, weil sie nie dreinredet – sie kennt sich ja nicht aus.

Mir zum Beispiel sind Verkehrsschilder ein Rätsel. Ich weiß auch beim besten Willen nicht, wie ich die Fahrradprüfung in der vierten Klasse bestanden habe. Einmal hat mich ein Freund auf einem Feldweg ans Steuer seiner Ente gelassen. Nach fünf Metern lag die Radkappe auf dem Asphalt und wir steckten im Acker fest.

Meine Eltern würden gar nicht ausschließen, im Alter noch eine Führerscheinprüfung abzulegen. Wenn es gar nicht anders geht, sollten sie etwa regelmäßig zum Arzt müssen und anders nicht hinkommen. Mit zunehmendem Alter schwindet die Flexibilität, sagt meine Mutter. Man merkt, dass das Verreisen schwerer fällt, vor allem mit viel Gepäck, sagt mein Vater. Die beiden buchen jetzt lieber komfortable Reisen mit wenigen Umsteigestationen und mit längeren Zwischenaufenthalten, auch wenn das etwas mehr kostet.

Manchmal fällt mir auf, dass sich Leute, die ich nach dem Weg frage, bei Entfernungen völlig verschätzen. Haben Autofahrer ein anderes Gefühl für Strecken? „Eine halbe Stunde Fußmarsch“ entpuppt sich dann als nur ein Kilometer Weg. Oft rät man mir sogar von einem Spaziergang ab: „Dahin können Sie nicht laufen, das ist eine Stunde von hier.“ Dann geh ich einfach los.