Das MECP-2-Duplikations-Syndrom ist eine äußerst seltene Krankheit. Zu Besuch bei einer Schorndorfer Familie, die es erwischt hat.

Region: Verena Mayer (ena)

Schorndorf - Die Sonne, die sich so viel Mühe gibt, Spätsommerlaune zu verstrahlen, hat wenig Chancen. Der kornblumenblaue Himmel führt einen aussichtslosen Kampf. Der bleierne Bass ist stärker: Er durchdringt das Herz. Das melancholische Cello ist mächtiger: Es fährt in den Magen. Die harten Hiebe auf das Schlagzeug passen zu den schweren Gedanken im Kopf. Der Sänger singt von Sternen. „Let’s look at the stars. So peaceful and clear.“

 

Die Frau, die die Tür zu der musikerfüllten Wohnung in Schorndorf öffnet, ist schmal und blass. Es ist unvorstellbar lange her, dass sie eine Nacht durchgeschlafen hat. Eva E. hat keine Zeit für Schlaf, ihr Sohn hat epileptische Anfälle. Besonders häufig kommen sie nachts. Es kann sein, dass Benedikt zwischen acht Uhr abends und sechs Uhr morgens alle zwei Stunden in seinem Bett sitzt, von Krämpfen geschüttelt wird und vor Anstrengung schwitzt. Seine Mutter ist immer da, passt auf ihn auf, damit er sich nicht verletzt und ausreichend atmet. Der Soundtrack dieses Tages darf wehmütig klingen.

Benedikts Epilepsie ist ein Teil einer Krankheit, über die wenig bekannt ist. Bis die Familie überhaupt eine Diagnose hatte, vergingen sieben Jahre. Seit 2010 wissen Eva und Axel E., dass ihr Sohn das MECP-2-Duplikations-Syndrom hat. Leider kann man nicht sagen, dass mit dem Wissen auch die Heilung kam. Und leider muss man sagen, das die Gewissheit nicht zwingend Hoffnung gebracht hat. Doch die kleine Familie kämpft um ihr Leben. Jeden Tag. Und jede Nacht. „Wir kennen es nicht anders, es ist unsere Normalität“, sagt Eva E. Einen Sohn haben die Eltern durch die Krankheit bereits verloren. Die Familie will das fast unbekannte Syndrom bekannter machen, nicht aber sich selbst. Deshalb erscheint nicht ihr vollständiger Namen in der Zeitung.

Beim ersten Krabbeln ist er zweieinhalb Jahre alt

Benedikt kommt im Februar 2003 auf die Welt. 51 Zentimeter, 2980 Gramm – ein scheinbar gesundes Kind. Doch das Glücksgefühl der Eltern weicht ersten Zweifeln. Auch nach sechs Wochen greift ihr Sohn nicht nach ihren Händen oder fängt ihren Blick auf. Das kommt schon noch, beruhigen die Ärzte. Sie täuschen sich. Benedikt hebt seinen Kopf nicht an, und auf die Seite rollt er sich auch nicht. Es dauert drei lange Monate, bis er das erste Mal lächelt, mit 14 Monaten schafft er es, alleine zu sitzen, beim ersten Krabbeln ist er zweieinhalb Jahre. Die Ärzte vermuten inzwischen, dass Benedikt bei der Geburt zu wenig Sauerstoff bekommen hat. Die Nabelschnur hatte sich zweimal um seinen Hals gelegt. Wahrscheinlich entwickle er sich deshalb etwas langsamer. Sie liegen falsch.

Benedikt ist jetzt zehn. Seine Mutter greift ihn unter den Armen und hievt ihn in seinen Rollstuhl. Sie stülpt ihrem Sohn Sandalen über die Füße, bindet ihm ein Halstuch um und schiebt ihn zum Spielplatz. Benedikt kreischt vor Vergnügen, flattert mit seinen Armen und zappelt so wild mit den Beinen, dass sein Rollstuhl zum Hüpfstuhl wird. „Das ist Ausdruck höchster Zufriedenheit“, übersetzt seine Mutter. Benedikt kann nicht sprechen, nicht gehen, nicht frei stehen. Die Beine tragen sein Gewicht nur kurz.

Seine Eltern müssen davon ausgehen, dass Benedikt sie nicht versteht, wenn sie ihm die Abenteuer von Pettersson und Findus vorlesen. Dass er jemals Mama und Papa zu ihnen sagen wird, erwarten sie schon lange nicht mehr. Sie verstehen ihn auch ohne Worte. Eva und Axel freuen sich, wenn Benedikt zum Rauschen des Föhns fröhlich gluckst, zum Brummen des Staubsaugers zufrieden wippt und sich an Papas Rücken schmiegt, wenn er auf dem Keyboard „Komm, wir woll’n Laterne laufen“ spielt.

Die Familie fühlt sich allein gelassen

Für die Mediziner ist Benedikt am Anfang ein Rätsel. Sie durchleuchten seinen Körper, aber alle Organe sind gesund. Sie kontrollieren seinen Kopf, auf einen Tumor stoßen sie nicht. Sie analysieren sein Blut, eine Stoffwechselkrankheit ist nicht zu entdecken. Sie zählen seine Chromosomen: alle da. Dass Benedikts Entwicklungsverzögerung dennoch eine genetische Ursache haben könnte, ahnt damals niemand.

Das ändert sich im August 2005 – als Jonathan auf die Welt kommt. Vier Wochen nach der Geburt ist den Eltern klar, dass Jonathan dieselben Auffälligkeiten zeigt wie sein Bruder. Auch aus ihm werden die Ärzte nicht schlau. Viele Untersuchungen später steht in den Formularen: schwere globale Entwicklungsretardierung unklarer Genese. Die Familie fühlt sich alleine. Sie würde sich gerne mit anderen Betroffenen austauschen, aber wo finden sie die? Wie können sie ihre Kinder optimal fördern? Welche Pflegestufe kann die Kasse ihnen zuteilen? Werden die Buben jemals Fortschritte machen? Ohne klare Diagnose ist alles noch mühsamer.

Das Jahr 2010 bringt Klarheit. Die Humangenetiker der Uniklinik Heidelberg finden die Ursache für Benedikts und Jonathans Behinderung: Das MECP-2-Gen ist bei ihnen doppelt vorhanden; daher der Name MECP-2-Duplikations-Syndrom. Das dafür zuständige X-Chromosom hat Eva E. übertragen. Sie wusste bis zu diesem Tag in Heidelberg nicht, dass sie diesen Gendefekt in sich trägt. Inzwischen weiß sie sogar, das sie die Einzige in ihrer Familie damit ist. Dennoch bedeutet die Diagnose auch Erleichterung: „Es war ein gutes Gefühl, endlich etwas Greifbares in der Hand zu haben, zu einer Gruppe zu gehören und mit der Erkrankung nicht mehr alleine dazustehen“, sagt die Mutter. 2005 wurde das Syndrom, das nur bei Buben auftritt, erstmals in der Fachliteratur beschrieben. Es fällt unter die Gruppe der seltenen Erkrankungen. Die Familie weiß von zwölf weiteren betroffenen Familien in Deutschland, mit zweien davon hat sie Kontakt.

Mit vier lernt Jonathan, Rollstuhl zu fahren

An den Wänden im Flur der barrierefreien Wohnung hängen Fotos der beiden Buben. Benedikt und Jonathan auf einer Blumenwiese. Benedikt und Jonathan auf dem Spielplatz. Benedikt und Jonathan an Fasching als Piraten. Benedikt und Jonathan als Nikoläuse im Dezember. Die Kostüme hat ihre Mutter genäht. Benedikt und Jonathan können nicht mit ihrem Cousin und ihrer Cousine Fangerles spielen. Sie können mit den Jungs und Mädchen aus der Nachbarschaft nicht durch die Spielstraße tollen, in der sie wohnen. Die Eltern freuen sich an Kleinigkeiten, die für sie Meilensteine bedeuten. Jonathan, der etwas weiter ist als sein älterer Bruder, kann Buchseiten umblättern und eine Zeitung so zurechtlegen, dass andere darin lesen können. Mit vier lernt er, alleine Rollstuhl zu fahren. Seine Eltern weinen vor Freude. „Jonathan war ein bisschen unsere Normalität“, sagt Eva E.

Im April 2011 ist Jonathan gestorben. Er hatte sich einen Infekt eingefangen und war an jenem Tag nicht in den Kindergarten gegangen. Als das Fieber gesunken war, legte seine Mutter ihn schlafen. Als sie das nächste Mal nach ihm sah, atmete der Fünfjährige nicht mehr. „Das war der Horror“, sagt Eva E.

Und dann diese Vorwürfe: Hätte sie etwas merken müssen? Sie ist doch Krankenschwester. Die Ärzte, der Pfarrer, ihr Mann, die Eltern, die Freunde, alle sagen, dass sie nichts dafür kann. Dass es diese Krankheit ist, von der keiner weiß, wie sie verläuft. Es hilft nichts. Eva E. durchleidet Monate, die finsterer sind als alles, was sie seit der Geburt ihres ersten Kindes erlebt hat. „Da kommt man mit Vernunft nicht ran“, sagt sie. Sie weint.

Der Umgang mit der Trauer

Benedikt fliegt. Er sitzt in einer Schaukel, die aussieht wie ein riesiges Vogelnest. Er flattert mit den Armen, hüpft sitzend auf der Stelle, rauscht vor und zurück und kreischt. Benedikt sieht glücklich aus. Bis zu Jonathans Tod saßen die Kinder häufig zusammen im Nest. Danach hockt sich Benedikt daheim oft vor ein Foto seines Bruders, unterhält sich mit ihm in ihrer gemeinsamen Sprache und lacht ihn an. Eva E. lässt sich den Namen ihres zweiten Sohnes auf den Arm tätowieren. Auf den rechten, genau dorthin, wo Jonathan saß, wenn sie ihn getragen hat. Axel E. findet bei der Arbeit Ablenkung und beim Volleyball und beim Schach. „Jeder von uns musste einen Weg finden, mit der Trauer umzugehen“, sagt die Mutter. Die Eheleute kennen die Statistiken, sie wissen, dass viele Ehen in solchen Extremsituationen zerbrechen. Doch Axel und Eva schaffen es, enger zusammenzuwachsen. In guten wie in schlechten Zeiten – sie haben mehr als deutlich erfahren, was das bedeutet.

In Benedikts Zimmer steht statt eines Schreibtischs ein Wickeltisch. Er hat keinen iPod, dafür ein Babyfon. Star-Wars-Figuren überziehen nicht den Flur, seine Kleider nicht das Sofa. Im Weg liegt nur seine kleine Matratze, damit er sich tagsüber jederzeit hinlegen kann. Die Medikamente gegen die Epilepsie machen ihn müde, verhindern aber nicht seine Anfälle – und die durchwachten Nächte seiner Mutter. Das letzte Mal, dass Benedikt nachts ohne anfallartige Unterbrechung geschlafen hat, liegt fast ein halbes Jahr zurück.

Das war im Allgäu, im Kinderhospiz St.Nikolaus. Dort wird Benedikt so fürsorglich betreut, dass die Eltern keine innere Unruhe spüren, wenn sie mal ohne ihn durch die Stadt bummeln oder abends ausgehen. Im Allgäu haben Eva und Axel auch mal Zeit für sich – und für Schlaf. Beim letzten Aufenthalt im Mai hat Benedikt zwei Nächte hintereinander ohne Anfall verbracht. „Wahrscheinlich hat er gemerkt, dass auch wir entspannter waren“, vermutet seine Mutter.

Bürokratische Hürden

Benedikts Kinderarzt hat der Familie für vier Nächte pro Woche eine Betreuung verordnet. Doch so einfach geht das nicht. Die Krankenkasse will die Intensivpflege zunächst gar nicht bewilligen. Nach aufreibendem Hin und Her genehmigt sie schließlich ein kleines Budget. Doch es erweist sich als schwierig, für diese Summe eine Fachkraft zu finden– eine solche fordert die Kasse jedoch. Dauerhaft einen großen Teil aus eigener Tasche zu bezahlen, wie beim höhenverstellbaren Wickeltisch, wäre für die Familie eine enorme Belastung. „Es ist einfach nur frustrierend“, sagt Eva E., die noch keine Entlastung für die Nacht gefunden hat. Immer fühle man sich wie ein Bittsteller.

Im Sommer haben Axel, Eva und Benedikt zusammen ihren 90. Geburtstag gefeiert. Zu dem großen Fest kamen Freunde und Verwandte aus fast ganz Deutschland. Wenn es gut läuft, schafft es die Familie im Herbst wieder zu einem der Almabtriebe im Allgäu. Die Kühe, die mit ihren Glocken am Hals durch den Ort stapfen, begeistern Benedikt so sehr wie sonst sein um die Ecke biegender Schulbus. „Wir genießen die Lichtblicke, die das Leben für uns bereithält“, sagt Eva E.

Der Tag wird kommen, an dem die Eltern ihren Sohn in ein Heim geben werden. Weil die Pflege daheim nicht mehr zu schaffen ist. „Wir hoffen, dass wir einen guten Platz in unserer Nähe finden, wo man seinen Bedürfnissen gerecht wird“, sagt der Vater. „Und dass wir lernen können loszulassen“, sagt die Mutter.

Sie schiebt Benedikt ein klein gepflücktes Stückchen Zwetschgenkuchen in den Mund. Und noch eins und noch eins. Benedikt liebt es zu essen. Danach wird seine Mutter ihn unter die Dusche schieben und dann mit der Hilfe ihres Mannes ins Bett tragen. Ob die Nacht etwas Schlaf bringt? Sie hoffen. Sie kämpfen. Um ihr Leben. Immer weiter.