Gabriele Noack aus Schwaikheim träumt vom perfekten Familienleben. Dann bekommt sie Julius. Ihre Erfahrungen mit dem behinderten Sohn hat sie in einem berührenden Buch verarbeitet.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Schwaikheim - Vor drei Jahrzehnten erfand James Pennebaker, Psychologe an der University of Texas, eine neue Therapie: das expressive Schreiben. Testweise ließ er seine Studenten bedrückende Lebenserfahrungen in Worte fassen. Die meisten Probanden fühlten sich danach deutlich besser. Es war, als habe sie das Schreiben von einer seelischen Last befreit.

 

Gabriele Noack schämt sich, ein behindertes Kind zur Welt gebracht zu haben. Es ist Montag, der 25. November 2013, als sie wieder einmal mit Julius in der Tübinger Universitätsklinik ist. Ihr 13 Monate alter Sohn soll neurologisch untersucht werden, offenbar hat er eine schwere Hirnschädigung. Seit der Geburt fragt sich Gabriele Noack, ob sie an der Behinderung schuld ist. Hat sie während der Schwangerschaft nicht genügend aufgepasst? Hätte sie ihre Vorprüfung zur Kinder- und Jugendtherapeutin nicht beim Thailänder feiern sollen? Damals bekam sie starke Bauchschmerzen. War das der Moment, in dem das Schicksal zuschlug? Gabriele Noack sitzt auf einer Liege, die für Eltern bereitsteht, die in der Kinderklinik übernachten. Sie packt ihren Laptop aus, klappt ihn auf und tippt die ersten Sätze ihres Buchs.

Mein Alltag kreist um Therapietermine, Arztbesuche und Förderung, Förderung, Förderung für Julius. Dreimal täglich soll ich krankengymnastische Übungen mit ihm machen. Julius schreit dabei so verzweifelt, als würde ich ihm alle Knochen brechen.

Das Leben war so leicht, bevor Julius kam. Gabriele Noack lernt nach dem Abitur in Winnenden am Stuttgarter Katharinenhospital Krankenschwester, studiert anschließend Sozialwesen und findet eine Festanstellung bei Bosch. Mit Anfang 30 lernt sie Michael kennen: Arzt, 15 Jahre älter als sie. Er ist der erste Mann, mit dem sie sich vorstellen kann, Kinder zu haben.

Michael zieht zu ihr in die Schwaikheimer Doppelhaushälfte, inklusive seines Kawai-Flügels. 2008 kommt Tom zur Welt, das erste Wunschkind. Alles läuft so gut, dass das Ehepaar bald ein zweites will. Während der Zeugungsphase schluckt Gabriele Noack Folsäuretabletten, während der Schwangerschaft nimmt sie Vitaminpräparate. Sie verzichtet auf Salami, Mettwurst, Rohmilchkäse, Kaffee und Süßigkeiten. An den Grillnachmittagen beißt sie in durchgegarte Rinderschuhsohlen, während sich Michael die Steaks saftig rosafarben schmecken lässt. Alles, was die Gesundheit des ungeborenen Lebens gefährden könnte, wird strikt gemieden.

In der 33. Schwangerschaftswoche quält sich Gabriele Noack mit ihrem Peugeot 206 durch verstopfte Stuttgarter Straßen zur Ultraschalluntersuchung. Nachdem sie sich das Gel vom Bauch gewischt hat, erklärt ihr die Ärztin: „Ihr Kind ist recht klein, sowohl der Kopf als auch der Rumpf. Ich habe Sorge, dass Ihr Sohn nicht mehr ausreichend von der Plazenta versorgt wird. Wenn Ihr Baby nicht weiterwächst, wäre es sinnvoll, wir würden die Geburt einleiten.“ Zwei Wochen später, am 19. Oktober 2012, ist es so weit.

Ich soll pressen, höre ich eine Stimme aus der Ferne rufen. Ich drücke, was das Zeug hält. „Nicht drücken, pressen!“, ruft sie noch energischer. Wie pressen? Mach ich doch, oder nicht? Wie geht das? Was ist der Unterschied zwischen drücken und pressen? Es war ein tödlicher Fehler, keinen Geburtsvorbereitungskurs besucht zu haben, schießt es mir durch den Kopf. Ich kann nicht mehr. Ich will, dass diese Schmerzen aufhören. Ich falle in Ohnmacht, es ist nicht auszuhalten.

Als das Neugeborene in ihren Armen liegt, sind die Qualen vergessen. Julius wiegt 2360 Gramm, zu wenig, um bei seiner Mutter zu bleiben. Die ersten Tage wird das Baby im Brutkasten verbringen müssen.

Gabriele Noack kann vor Sehnsucht nach ihrem Sohn nicht schlafen. Um drei Uhr früh schleicht sie durch leere Klinikgänge und läutet an der Tür zur Kinderintensivstation. Die Nachtschwester führt sie zu Julius. Noch schnell die Kabel entwirren, mit denen er verbunden ist, dann kann Gabriele Noack den Winzling in ihren Armen halten. Sie schaut ihn an. Seine Kopfhaut schimmert lila, auf seiner Stirn ist ein roter Fleck. Und was ist mit der Hand? Das letzte Glied von Julius’ rechtem Mittelfinger fehlt.

Oh nein! Das darf nicht wahr sein! Julius wird nie Klavier spielen können. Wie traurig wird Michael sein! Ist das Klavier doch seine große Leidenschaft. An meinem ersten Abend zu Hause recherchiere ich sofort im Internet. Ich lese auf einer Seite, dass fünfzig Prozent aller Handfehlbildungen mit einer weiteren Behinderung einhergehen. Sofort klicke ich die Seite weg, als könnte ich damit das Schlimmste verhindern.

Eine Woche später wird bei Julius eine pränatale Hirnblutung diagnostiziert. In diesem Moment steigen erstmals die Schuldgefühle in ihr auf: Das Unglück ist also in meinem Bauch geschehen! Habe ich etwas falsch gemacht?

Eine weitere Untersuchung. Nach der Magnetresonanztomografie in Vollnarkose steht fest, dass Julius operiert werden muss. Ansonsten würde er einen Hydrocephalus entwickeln, einen Wasserkopf, dann würde weitere Hirnmasse absterben.

Seit Stunden hätte er aus der Narkose erwachen müssen. Noch immer liegt er reglos da, die Beatmungsmaschine pumpt und pumpt. In der Nacht, der schlimmsten ihres bisherigen Lebens, klammert Gabriele Noack sich an ihren Mann. Wird der gemeinsame Sohn sein Leben im Koma verbringen?

Nein, das wollen wir nicht. Wenn das so ist, dann, bitte, lieber Gott, lass Julius heute Nacht besser sterben, beten wir Atheisten.

Julius wacht auf. Es dauert fast sechs Wochen, bis Gabriele Noack ihn mit nach Hause nehmen darf. Ihr Sohn will nicht trinken, er nimmt kaum zu. Vor dem Einschlafen zuckt Julius seltsam. Er schielt, und sein Augapfel ist zu kurz. Mit sechs Monaten bekommt er eine Brille. Ein schwerer Infekt, vermutlich durch eine Fehlbildung des Harnleiters verursacht, muss mit Antibiotikaspritzen behandelt werden. An der Einstichstelle entwickelt sich ein Abszess.

Der nächste Schock

Das Leid nimmt kein Ende. Die Kinderärztin notiert „zögerliche motorische Entwicklung“ im gelben Untersuchungsheft und verschreibt Krankengymnastik. Julius macht keinerlei Anstalten, sich zu drehen, geschweige denn zu krabbeln. Dabei ist er schon acht Monate alt.

Die Physiotherapeutin sagt, Julius sei „besonders“. Gabriele Noack weiß, was damit gemeint ist: Sie wird ein Leben lang für ihn da sein müssen, sie wird nie wieder frei sein. Das sagt sie sich, aber auch: Reiß dich zusammen, Gabriele!

Ich muss die Ohnmacht bezwingen. Ich werde den Mount Everest besteigen müssen. Irgendwie muss ich da hoch. Hier im Basislager kann ich nicht verweilen, starr vor Schreck. Ich kann auch nicht weglaufen und meine Familie allein zurücklassen. Letztlich gibt es für mich nur den Weg nach oben. Vielleicht werde ich niemals auf dem Gipfel stehen und werde anerkennen müssen, dass dieser Berg nicht zu bezwingen ist. Aber wenn ich stehen bleibe, werde ich erfrieren.

In der Eltern-Kind-Gruppe der Diakonie Stetten freundet sich Gabriele Noack mit Frauen an, die anders sind als sie, aber Ähnliches durchmachen. In dem „Behindikurs“, wie sie das wöchentliche Treffen nennen, wird offen und unbefangen geredet. Über Lennart, der demnächst einen Ernährungsschlauch über die Bauchdecke gelegt bekommt. Über Anna, die zur Medikamenteneinstellung ins Epilepsiezentrum muss. Und über Julius, der bald ein Jahr alt wird und sich noch immer kaum bewegt.

Immer dann, wenn Gabriele Noack etwas Ruhe gefunden hat, folgt der nächste Schock. Ein Sonntag im Dezember 2013: Tom will nach Schorndorf ins Hallenbad. Michael setzt sich mit Julius ins Babybecken. Gabriele Noack kann sich endlich mal wieder ganz und gar um ihren älteren, gesunden Sohn kümmern: Sie testet mit Tom die Riesenrutsche – und bekommt nicht mit, dass keine hundert Meter entfernt Julius fast stirbt. Plötzlich fällt er in sich zusammen. Michael kann ihn reanimieren. Wäre er kein Arzt, hätte Julius nur 14 Monate auf Erden verbracht. Statt in den Himmel kommt er in die Klinik. Mal wieder.

Die Nachricht unserer Familientragödie scheint sich in Schwaikheim herumgesprochen zu haben. Es ist so weit. Wir sind bekannt. Wir sind die Familie mit dem behin derten Sohn. Wir sind die Behinderung. Ich bin die Mutter eines behinderten Kindes.

Julius entwickelt eine schwere Form von Epilepsie. Die Anfälle werden häufiger und kommen überall, ob daheim, auf der Straße oder in der Pizzeria. Gabriele Noack muss ihrem Sohn die Notfallmedikamente selbst spritzen, zum Glück hat sie vor zwei Jahrzehnten Krankenschwester gelernt. Auch der Umgang mit dem Therapiestuhl und dem Reha-Buggy fällt ihr nicht schwer. Wie könnte Julius überleben, wenn seine Eltern eine Architektin und ein Luftfahrtingenieur wären? Oder Hartz-IV-Empfänger? Gabriele Noack und ihr Mann sind medizinisch bewandert und finanziell abgesichert. Trotzdem wird irgendwann alles zu viel.

In der Nacht überfallen Gabriele Noack Panikattacken: Nie mehr wird sie mit ihrer Familie essen gehen können, nie mehr in den Urlaub fahren können, nicht einmal Spazierengehen ist noch drin. Immer könnte Julius einen Anfall bekommen.

Sie lässt sich ein Antidepressivum verschreiben. Dreimal wöchentlich legt sie sich bei einem Psychoanalytiker auf die Couch, um die Dinge zu betrachten, die ihr Bewusstsein bisher verdrängt hat. Fühlt sie sich von Kindheit an für alles Mögliche verantwortlich, auch für Dinge, die sie gar nicht beeinflussen kann? Und, wenn ja: warum?

Während wir versuchen, Julius’ Epilepsie zu behandeln, arbeite ich in meinen eigenen Therapiestunden an den Schuldgefühlen, an meinem Hader mit dem Schicksal, an meiner Wut, meiner Trauer, meiner Depression.

Mit der Zeit bemerkt Gabriele Noack, wie sich etwas in ihr verändert. Früher wollte sie einen gesellschaftlich angesehenen Job, einen silbernen Mercedes SLK, wohlgeratene Kinder, eine schicke Wohnung oder besser ein hübsches Häuschen mit Garten, reichlich Urlaube. Heute freut sie sich über ihren Dacia, weil der Hochdachkombi genügend Platz für Julius’ Reha-Buggy hat. Sie genießt jeden Tag, an dem sie ihren kranken Sohn nicht mit dem Dacia in   die Klinik bringen muss. Und wenn Julius bei einem Wochenendausflug an den Chiemsee die Augen aufreißt und lacht, weil ihn der Wind streichelt, könnte Gabriele Noack vor Glück weinen.

Mehr als 800 seiner Gene wurden in der Klinik bereits unter die Lupe genommen: keine Auffälligkeiten, kein Hinweis auf eine erbliche Erkrankung. Vermutlich leidet Julius unter dem äußerst seltenen Lennox-Gastaut-Syndrom. Aber spielt es überhaupt noch eine Rolle, was ihm fehlt?

Wie sehr ich ihn liebe, denke ich. Mit all seinen Schwächen, Anfällen, Behinderungen. Wahrscheinlich ist dies die wichtigste Erfahrung in meinem Leben, überlege ich mir. Diese Erkenntnis, eine Liebe in mir zu tragen, die an nichts gebunden ist, die keine Erwartungen mehr kennt und keine Leistung fordert.

Vergangenes Jahr, kurz vor Weihnachten schickt sie das Manuskript an einen Literaturagenten, sieben Monate später erscheint das 270-Seiten-Werk bei Bastei Lübbe. Zu diesem Zeitpunkt stürzt Gabriele Noack noch einmal in eine seelische Krise. Sie fürchtet sich vor negativen Reaktionen, die das Buch mit all seinen ungeschönten Wahrheiten auslösen könnte. Zumal ihr Mann von der Idee nicht begeistert war, große Teile des Privatlebens öffentlich zu machen – weswegen er auch nicht mit seinem richtigen Vornamen genannt wird, sondern in „Michael“ umgetauft wurde.

Die Kundenrezensionen bei Amazon sind überschwänglich – fünf von fünf Sternen. „Dieses Buch trifft einen mitten ins Herz! Es ist schonungslos ehrlich, herzergreifend, witzig, traurig und absolut Augen öffnend geschrieben!“, schreibt eine Leserin, eine andere urteilt: „Authentisch, sensibel, ehrlich und voller Liebe! Die Autorin beschreibt die besonderen Momente mit ihrem besonderen Sohn und ihrer Familie, vom Nicht-Wahrhaben-Wollen über die Wut bis hin zum normalen Leben auf eine wunderbare Weise.“

Am kommenden Mittwoch wird Julius vier Jahre alt. Er gilt als austherapiert, sein Zustand wird sich nicht mehr bessern. Alle Medikamente gegen die schwere Epilepsie wurden abgesetzt – nichts half, und die Nebenwirkungen waren übel. Es gibt Phasen, in denen Julius stark krampft, und Tage, in denen er in sich zu ruhen scheint. Seine Eltern haben verfügt, dass Julius nicht mehr wiederbelebt werden soll, wenn er noch einmal aufhört zu atmen.

Nachdem Tom, ihr erster Sohn, auf der Welt war, begann Gabriele Noack ein Studium zur Kinder- und Jugendtherapeutin. Von dem Ziel, es fortzuführen, hat sie sich verabschiedet. Julius bleibt ein Baby, auch wenn er mittlerweile 14 Kilogramm wiegt. Er wird seine Mutter immer brauchen.

Das Schreiben bringt Ordnung in ihren Kopf. Tagsüber, wenn Julius in der Kita „Pusteblume“ ist, arbeitet Gabriele Noack an ihrem ersten Roman. Er handelt von drei Frauen um die 40, die sich nach langer Zeit wieder begegnen und einander erzählen, wohin sie das Schicksal geführt hat. Es geht um unerfüllte Träume und darum, dass letztendlich alles gut ist, so wie es ist.