Plieningen und Birkach gehören seit 1942 zu Stuttgart. Die Eingemeindungen wurden von der damaligen NS-Führung angeordnet. In Plieningen empfinden sie viele bis heute als Zwangsdiktat der damaligen Machthaber. In Birkach gab es dagegen auch damals keine Ablehnung gegen die Entscheidung.

Birkach/Plieningen - Am 1. April 1942 taten einige Plieninger Schulkinder etwas, was im Dritten Reich sehr ungewöhnlich war. Sie sagten Nein. Karl Strölin, vom württembergischen Reichsstatthalter Wilhelm Murr als Staatskommissar als Verwalter Stuttgarts eingesetzt, besuchte an diesem Tag das Dorf Plieningen jenseits der Stadtgrenzen. „Er kam in einer schwarzen Limousine mit Hakenkreuzfahne“, erinnert sich der 87-jährige Plieninger Hermann Richter.

 

Richter war damals zwölf Jahre alt und ging zur Schule. Strölin sei in feinem Anzug aus seiner Staatskarosse gestiegen und habe die Plieninger Knirpse angesprochen, erinnert sich Richter. Ob sie sich freuen würden, dass sie vom heutigen Tag an Stuttgarter seien, habe der wichtigste NS-Führer der Stadt von den Jungen wissen wollen. „Wir haben gar nicht weiter nachgedacht und alle laut ,Noi!‘ gerufen“, erinnert sich der Plieninger.

Mit einer Unterschrift in Kraft gesetzt

Der Stuttgarter Staatskommissar war angesichts der ungewohnten Widerworte vielleicht überfordert. Richter erinnert sich, dass Strölin seinen Weg ins Plieninger Rathaus ohne einen Kommentar fortgesetzt hatte. Dort setzte er dann mit einer Unterschrift das Dekret in Kraft, das Plieningen zu einem Teil Stuttgarts machte.

Strölin, der Plieninger NS-Ortsgruppenführer Fritz Gugel und andere Parteigenossen zogen sich nach dem offiziellen Akt in das Gasthaus „Zum Brückle“ zurück. Dort wurde bei Hirnsuppe mit Klößchen, Kalbs- und Rindsbraten und Früchtekompott auf den Führer angestoßen – und auf die handstreichartige Aktion, mit der Plieningen eingemeindet wurde.

Angst vor dem NS-Regime

Hermann Richter erinnert sich daran, wie die Plieninger damals hinter vorgehaltener Hand über die Entscheidung geflucht hatten. Denn niemand hatte sie nach ihrer Meinung gefragt. In der Öffentlichkeit habe natürlich niemand ein kritisches Wort geäußert. „Das waren raue Zeiten“, sagt Richter. Der NS-Ortsgruppenleiter Gugel habe auf seine Art dafür gesorgt, dass niemand in Plieningen gegen den Beschluss aufbegehrt hat. Gugel sei ein „gewalttätiger Kerl“ gewesen, erzählt Richter. Noch beim Anrücken der Alliierten 1945 habe der NS-Mann auf einen Nachbarn geschossen. Der habe ihm geraten, mit dem Wandern anzufangen, da nun das Regime am Ende war, erinnert sich Richter.

Das Gefühl, im Dritten Reich von Stuttgart – beziehungsweise von mächtigen Stuttgarter NS-Größen und deren lokalen Handlangern – überwältigt worden zu sein, blieb in Plieningen nach 1945 als Bitterkeit gegenüber der Landeshauptstadt erhalten. Diese ist bisweilen auch verbunden mit einem Ressentiment gegenüber Birkach. Das ehemalige Nachbardorf habe sich bereitwillig einem Rechtsbruch der Nationalsozialisten gefügt, weil es als arme Gemeinde froh war, vom großen Stuttgart geschluckt zu werden. So oder so ähnlich lauten bis heute die Mutmaßungen mancher Plieninger. Der Ortshistoriker Tilo Schad weist darauf hin, dass Plieningen wirtschaftlich tatsächlich auf eigenen Füßen gestanden habe – anders als Birkach. So komme das Gefühl zustande, etwas verloren zu haben, und zwar durch den Willkürakt eines Unrechtsstaates. „Rechtlich war ein solcher Parzellentausch gar nicht möglich“, meint Schad. Nur habe das die Stuttgarter NS-Machthaber nicht interessiert. Die Gesetze der Weimarer Verfassung galten schließlich nur noch, wenn der Führerstaat nicht etwas anderes verfügte. Der damalige Reichsminister des Inneren, Wilhelm Frick, gab unter Verweis auf das Kriegsrecht grünes Licht für die Pläne der Stuttgarter NS-Führung.

Stuttgart sollte wachsen

Staatskommissar Karl Strölin holte Plieningen, Birkach und andere Ortschaften auf den Fildern letztendlich „heim in die Stadt“, um die Gemarkung Stuttgarts zu vergrößern. Die Stadt gewann auf einen Schlag 5800 Hektar und 38 000 Einwohner hinzu. Stuttgarts Einwohnerzahl vergrößerte sich damit auf circa 480 000. Die Markungsfläche wuchs von rund 10 000 Hektar im Jahr 1933 auf knapp 21 000 Hektar im Jahr 1942. So stieg auch die Bedeutung des ehrgeizigen NS-Politikers Karl Strölin. Er fürchtete, dass Straßburg im besetzten Elsass der Stadt Stuttgart als „Gauhauptstadt“ im südwestdeutschen Raum den Rang ablaufen könnte.

In Birkach hat die von einem Tag zum anderen vollzogene Entscheidung offenbar weniger geschmerzt als im benachbarten Plieningen. Schulkinder begrüßten den Staatskommissar Strölin dort mit einem Lied und einem Gedicht mit Blumengruß. „Die Birkacher waren eher mit dem Kriegsalltag beschäftigt als mit dem Verwaltungsakt“, vermutet der Birkacher Ortshistoriker Eberhard Dittmann. Viele Leute in Birkach hätten die Eingemeindung pragmatisch gesehen, da sie ohnehin in Stuttgart zur Arbeit gingen.

Machthaber machten Birkach Versprechungen

Der 90-jährige Birkacher Walter Mögle kann sich nicht an Unzufriedenheit in dem ehemaligen Dorf erinnern. Die Menschen hätten die Entscheidung „von oben“ eben akzeptiert, wie es damals üblich war, meint er. Allerdings hätten Strölin und die Partei den Birkacher Bürgern auch viele Versprechungen gemacht. Von einer eigenen Gemeindehalle sei gesprochen worden, die dann aber nie gebaut worden war. „Es war eben auch Krieg, das haben die Leute schon verstanden“, sagt Mögle.

Einige Plieninger können ein solches Verständnis für die damaligen Entscheidungen offenbar heute nach wie vor nicht aufbringen. Oerny Lunke ist einer von denen, die sich mit der Ortshistorie auseinandersetzen. Er gibt zu, dass er sich eine eigenständige Gemeinde Plieningen vorstellen könnte – in seinen Träumen. Die damalige Entscheidung sei aber Unrecht gewesen, findet er.

Sein Ortshistorikerkollege Tilo Schad kennt nach seinen eigenen Worten Plieninger, die angeblich immer noch gerne unabhängig vom großen Stuttgart wären. Er selbst gehöre nicht dazu, schiebt Schad hinterher. „Wir wären heute wohl auch so nicht mehr selbstständig. Außerdem leben wir inzwischen ganz gut damit, Teil von Stuttgart zu sein“, sagt er. Den Groll über den Handstreich der damaligen Stuttgarter Führung, so Tilo Schad, könne er als bekennender Plieninger allerdings durchaus nachvollziehen.