Exklusiv Offiziell dient die Digitalisierung der Justiz nicht dem Personalabbau. Doch eine interne Untersuchung des Landesjustizministeriums sieht enorme Sparmöglichkeiten: Langfristig ließen sich 1600 Stellen streichen und 80 Millionen Euro pro Jahr sparen.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - An der Dimension des Vorhabens lässt Rainer Stickelberger (SPD) keine Zweifel. Mal spricht er vom „größten Reformprojekt der Justizgeschichte“, mal von einer wahren „Revolution“, zumindest aber von einer „massiven Umstellung“ für alle Bediensteten. Die Arbeit mit und in der Justiz, sagt der Stuttgarter Justizminister, werde sich „komplett verändern“.

 

Gemeint ist die Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs und der elektronischen Akte, mit der die Digitalisierung nun auch Gerichte und Staatsanwaltschaften voll erfassen soll. Noch werden dort emsig Akten aus Papier produziert: Jahr für Jahr sind es so viele, dass sie – hintereinander gelegt – von Stuttgart bis Bonn reichen würden. Wie vor hundert Jahren verteilen Boten mit rumpelnden Aktenwagen die Unterlagen in die Amtszimmer. Nach und nach aber sollen immer weniger Dokumente gedruckt, versandt und am Ende in der Registratur gelagert werden. Vom Posteingang bis zum -ausgang, so das Ziel, werden künftig jährlich 850 000 Verfahren vollständig elektronisch bearbeitet.

Starke Abwehrreaktion erwartet

Seit das Landeskabinett im Juni den Startschuss gegeben hat, wird es ernst mit der elektronischen Akte; bis 2022 soll sie nach dem gestuften Zeitplan bundesweit Standard sein (siehe Infoelement). Neben der technischen Umsetzung gilt es als größte Herausforderung, die Justizangehörigen für die digitale Zukunft zu gewinnen.

Einfach werde das nicht, ahnten Stickelbergers Experten schon bei den Vorarbeiten. Die Bediensteten hingen am Papier, es sei mit einer „erheblichen und komplexen Abwehrreaktion zu rechnen“, warnte eine interne Projektgruppe. Gerade bei den Richtern gebe es eine weit verbreitete Skepsis gegen die Digitalisierung, wie Befragungen zeigten. Sie könnten die Umstellung faktisch blockieren – und das womöglich sogar unter Berufung auf ihre gesetzlich garantierte Unabhängigkeit.

Minister streicht die Vorteile heraus

Die Direktoren und Präsidenten der Gerichte sieht Stickelberger daher in einer besonderen Verantwortung: Sie müssten die elektronische Akte „zu ihrer Sache machen“, damit insgesamt Akzeptanz entstehe. Angesichts einer „veränderten Grundstimmung“ ist der Minister mittlerweile guten Mutes. Früher hätten grundsätzliche Befürchtungen überwogen, wenn er Dienststellen im Land besuchte. Inzwischen zeigten sich die Mitarbeiter zunehmend interessiert, was da auf sie zukomme und wie sie sich am besten darauf einstellten. 500 Teilnehmer etwa nutzten im Juli einen Informationstag, um über ihre künftige Arbeitsweise zu diskutieren.

Gerne spricht der Ressortchef bei solchen Gelegenheiten von den Vorteilen der elektronischen Akte. Sie erleichtere etwa die Telearbeit im Heimbüro und damit die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Auch Bedienstete mit körperlichen Einschränkungen profitierten. Was mögliche Einsparungen angeht, bleibt Stickelberger eher vage: Papier, Druck, Porto, Lagerung – da fielen erhebliche Ausgaben weg. Personal abzubauen sei hingegen kein Ziel der Reform; man plane lediglich, sie möglichst ohne neue Stellen zu schultern. Allerdings stiegen die Anforderungen an die Servicekräfte, da die einfachen Tätigkeiten zunehmend automatisiert werden.

1600 Stellen könnten überflüssig werden

Es handele sich um „kein Personaleinsparprogramm“ – diese Zusage Stickelbergers dient offenbar der Akzeptanz der Reform. Doch in seinem Haus werden solche Überlegungen durchaus angestellt. Die Investitionen von 25 Millionen Euro und die laufenden jährlichen Kosten von sieben Millionen Euro ließen sich schnell wieder hereinholen, errechnete nach StZ-Informationen die noch von der früheren Amtschefin Bettina Limperg beauftragte Projektgruppe. Bei den Sachkosten, vor allem aber beim Personal bestehe beträchtliches Sparpotenzial: der Bedarf an Servicekräften, von denen es schon heute zu viele gebe, werde schließlich spürbar sinken.

Wie viele Mitarbeiter maximal überflüssig werden könnten, ermittelte die ministeriumsinterne Organisationsberatung anhand präziser Daten für alle Bereiche der Justiz: Knapp 1600 Stellen könnten danach mittel- bis langfristig wegfallen, wenn konsequent papierlos gearbeitet würde. Dies entspräche jährlichen Einsparungen von fast 80 Millionen Euro – ein dicker Batzen, vor allem angesichts der Beteuerungen, bei der Justiz lasse sich nicht mehr sparen. Bereits auf dem Weg zu diesem möglichen „Endausbaugrad“, kalkulierten die Experten, seien vor allem durch Personalabbau Einsparungen in zweistelliger Millionenhöhe möglich. Da er „ verträglich“ erfolgen müsse, seien ihm aber Grenzen gesetzt. Die Mitarbeiterzahl lasse sich aus verschiedenen Gründen nicht so schnell reduzieren, wie die Technik dies ermöglichen würde.

Als ferne Vision heruntergespielt

Offiziell wird die bisher nicht kommunizierte 80-Millionen-Marke, die in der Justiz einige Unruhe auslösen könnte, stark relativiert. Man habe „theoretische Berechnungen“ angestellt, wie sich eine technisch mögliche weitestgehende Automation auswirken würde, sagt der Leiter von Stickelbergs Projektgruppe. Es handele sich um eine bloße „Vision“ für eine Zeit, die „noch sehr weit weg“ sei. Genau diese Sprachregelung wurde bereits im Strategiepapier des Ministeriums ausgegeben. Die maximalen Einsparmöglichkeiten, hieß es darin, würden als „visionär“ dargestellt. Es folgte ein aufschlussreicher Zusatz: „Die ,Vision’ sollte jedoch nicht aus dem Auge verloren werden.“