Missstände in den Atomkraftwerken sollen nicht nur durch anonyme Hinweise bekannt werden. Dafür gibt es offizielle Kanäle – die allerdings kaum genutzt werden.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Das Schreiben war auf Briefpapier des Gemeinschaftskernkraftwerks Neckarwestheim (GKN) verfasst. Anonym informierte ein besorgter Mitarbeiter Behörden und Medien über – tatsächliche oder angebliche – Missstände in dem Atommeiler. Gleich drei Stellen begannen daraufhin umgehend, den Verdacht von Mängeln in der Sicherheitskultur und von Korruption bei Auftragsvergaben zu prüfen: die Atomaufsicht im Umweltministerium, die Staatsanwaltschaft Mosbach und der Betreiberkonzern EnBW.

 

Es war der vorerst letzte, aber keineswegs einzige Fall, in dem Hinweise eines unbekannten Insiders umfassende Untersuchungen auslösten. Auch die erst nicht gemeldeten Sicherheitsverstöße im Kernkraftwerk Philippsburg, die derzeit die Atomaufsicht beschäftigen, wurden erst auf diesem Weg bekannt. Ohne den anonymen Brief vom Februar 2011 hätte die Öffentlichkeit von den Vorfällen wohl nie erfahren. Erst bei der dadurch ausgelösten internen Aufarbeitung stieß die EnBW auf weitere, zum Teil gravierende Probleme.

Ausgerechnet in den Atommeilern mit ihrem hohen Risikopotenzial werden Missstände nur durch „Whistleblower“ publik – das kann eigentlich nicht sein. Dort gibt es schließlich Strukturen, damit Mitarbeiter entsprechende Hinweise intern einspeisen können. Doch diese, berichten erfahrene Praktiker, würden wenig bis kaum genutzt. Es fehle wohl am Vertrauen, dass der Informant keine Nachteile erleide und den Tipps gründlich genug nachgegangen werde. Beides sei aus der Sicht mancher Hinweisgeber besser gewährleistet, wenn man sich anonym nach draußen wende.

EnBW spricht von „offener Unternehmenskultur“

Die EnBW selbst sieht das deutlich anders. Nur „in einigen wenigen Fällen“ sei in der Vergangenheit „zum Mittel des anonymen Schreibens an Dritte gegriffen“ worden, teilte das Unternehmen auf StZ-Anfrage mit. Dabei sei „keinesfalls sicher, ob und inwieweit es sich bei den Briefschreibern um Mitarbeiter der EnBW handelt“. Innerhalb des Konzerns und der Kernkrafttochter EnKK werde vielmehr „eine offene Unternehmenskultur gepflegt und gelebt“. Dies zeige sich auch daran, dass „über Hierarchiegrenzen hinweg die Prinzipien der offenen Tür und des offenen Ohrs gelten“. Rückmeldungen über etwaige Missstände oder das Stellen von Fragen seien jederzeit möglich; dies werde „in der täglichen Zusammenarbeit auch aktiv und intensiv wahrgenommen“.

An den Kraftwerksstandorten gibt es laut EnBW ein „definiertes und kommuniziertes Verfahren für vertrauliche Meldungen“, das mit der Arbeitnehmervertretung schriftlich vereinbart sei. Ansprechpartner sei ein speziell ausgebildeter Mitarbeiter, der sogenannte Human-Factor-Koordinator. Auf Wunsch gebe dieser Hinweise anonymisiert zur Bearbeitung und Klärung intern weiter. Über diese Möglichkeit seien die Beschäftigten vielfältig informiert worden. „Die Erfahrung zeigt, dass dieser Weg bekannt ist und auch genutzt wird.“ Die Frage, in welchem Umfang dies geschieht, ließ die EnBW unbeantwortet; auch Beispiele für solche Meldungen wurden auf StZ-Bitte nicht genannt.

„Die Möglichkeiten und Prozesse zum Umgang mit Ereignissen wurden in den letzten Jahren kontinuierlich ausgebaut“, resümiert die EnBW. Gegenwärtig würden „Strukturen entwickelt“, um diese Ansätze weiterzuentwickeln. Man wolle den „Dialog- und Reflexionsprozess“ an den Standorten fördern. Auch auf Konzernebene gebe es im Bereich Corporate Compliance eine „zentrale Anlaufstelle“ für Hinweise auf Verstöße oder Verdachtsfälle. Diesen werde dann von der Konzernrevision, dem Rechts- und dem Personalbereich nachgegangen. Um externe Hinweise von Geschäftspartnern zu ermöglichen, werde der Meldeweg auch im Internet genannt.

Umweltminister Untersteller sieht Verbesserungsbedarf

Das Umweltministerium von Franz Untersteller (Grüne) sieht bei der EnBW dagegen noch einigen Verbesserungsbedarf. Einem Sprecher Unterstellers zufolge wurde das Unternehmen anlässlich der Aufarbeitung der Vorfälle in Philippsburg „aufgefordert, sich mit der Frage zu beschäftigen, weshalb die geforderte kritisch hinterfragende Grundhaltung nicht so gestärkt werden kann, dass festgestellte Probleme nicht offen betriebsintern diskutiert werden“. Im Blick auf den EnBW-internen Umgang mit anonymen Tipps sagte der Sprecher: „Es liegt in der Betreiberverantwortung, dass dieses System funktioniert und sich das Personal nicht nach außen wenden muss.“ Das Ministerium jedenfalls werde „fundierten anonymen Hinweisen“ auch weiterhin nachgehen. Ob man dafür zum Beispiel eine telefonische „Hotline“ einrichte, hieß es auf StZ-Frage, sei später zu erörtern.