Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)
 

Ganz schlimm trifft es die Frauen: „In den ersten acht Tagen waren wir Freiwild“, sagt Ruth Caldeweyher, die damals 18 Jahre alt war und im Westen wohnte. Es gibt ganze Wellen von Vergewaltigungen. Laut Andreas Fröschler, der einen Band über das Kriegsende in Stuttgart geschrieben hat, hätten 1389 Frauen allein zwischen dem 21. und dem 30. April bei den Behörden angezeigt, dass sie vergewaltigt worden seien – die Dunkelziffer ist aber hoch. „Das Gefühl der absoluten Rechtlosigkeit war riesig“, sagt Caldeweyher.

Oft geschehen die Übergriffe im Beisein des Mannes oder der Kinder, und sie werden oft von Gewalt und Plünderungen begleitet. Die Zeitzeugin Ingeborg Böttger, damals 15 Jahre alt, schrieb der StZ einen Brief: „Meine Freundin und ein gleichaltriges Mädchen wurden von je sieben Soldaten unter vorgehaltener Waffe vergewaltigt. Auf Grund dieses Vorfalls habe ich wochenlang nicht zuhause übernachtet, sondern teils in einer Ruine, teils bei Nachbarn im Keller, teils in einer Hütte für Hasen.“

Tage der Besetzung, Tage der Befreiung.

Noch am 21. April hängen Plakate aus, auf denen die Franzosen ihre Regeln kund tun (siehe Bild): Sollte ein Soldat angegriffen werden, würden 25 Deutsche erschossen. Und den Deutschen wird die geringste Menge an Nahrung aller Besatzungszonen zugeteilt, 970 Kalorien pro Tag. Mehr wäre möglich gewesen, aber man orientiert sich daran, was die Franzosen unter deutscher Herrschaft erhalten haben. Am Montag nach der Besetzung seien zudem Tausende von Männern von der Straße weg verhaftet worden, schreibt Hermann Vietzen in seiner Chronik der Stadt. Die Franzosen suchen nach Soldaten, die ihre Uniform weggeworfen haben und untergetaucht sind. Viele kommen erst nach Wochen heim.

Die offizielle Statistik zählt 1389 Vergewaltigungen

Ganz schlimm trifft es die Frauen: „In den ersten acht Tagen waren wir Freiwild“, sagt Ruth Caldeweyher, die damals 18 Jahre alt war und im Westen wohnte. Es gibt ganze Wellen von Vergewaltigungen. Laut Andreas Fröschler, der einen Band über das Kriegsende in Stuttgart geschrieben hat, hätten 1389 Frauen allein zwischen dem 21. und dem 30. April bei den Behörden angezeigt, dass sie vergewaltigt worden seien – die Dunkelziffer ist aber hoch. „Das Gefühl der absoluten Rechtlosigkeit war riesig“, sagt Caldeweyher.

Oft geschehen die Übergriffe im Beisein des Mannes oder der Kinder, und sie werden oft von Gewalt und Plünderungen begleitet. Die Zeitzeugin Ingeborg Böttger, damals 15 Jahre alt, schrieb der StZ einen Brief: „Meine Freundin und ein gleichaltriges Mädchen wurden von je sieben Soldaten unter vorgehaltener Waffe vergewaltigt. Auf Grund dieses Vorfalls habe ich wochenlang nicht zuhause übernachtet, sondern teils in einer Ruine, teils bei Nachbarn im Keller, teils in einer Hütte für Hasen.“

Tage der Besetzung, Tage der Befreiung.

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Ruth Caldeweyher wird im letzten Moment gerettet. Als drei Soldaten nachts um 2 Uhr in die Wohnung eindringen, verteidigt ihr Vater sie, und die Mutter schreit vom Balkon aus um Hilfe: „In ganz vielen Häusern setzt sich der Hilfeschrei fort – irgendwann kommen französische Soldaten an und nehmen die drei Männer fest.“ Der damals 33-jährige Wolfgang Tschermak von Seysenegg berichtet gar, dass drei „sehr zivilisierte“ Franzosen die fünf Frauen im Haus beschützt hätten.

Diese Ereignisse zeigen, dass die Besatzungstruppen Vorschriften haben. So hat die Zeitzeugin Ingeborg Müller sogar mit angesehen, wie ein Soldat erschossen werden sollte – er hat sein Leben der Frau zu verdanken, die er überfallen hat. Sie setzte sich für ihn ein. Überhaupt betonen die Vorgesetzten immer, wenn sich mancher Pfarrer beschwert, es gebe keinen militärischen Befehl dafür – im Gegensatz zur SS, die Vergewaltigungen in Frankreich angeordnet habe. Oft fällt bei den Franzosen zur Begründung von Zwangsmaßnahmen das Wort Oradour: Die Waffen-SS hatte am 10. Juni 1944 das Dorf Oradour bei Limoges niedergebrannt und fast alle 640 Bewohner auf bestialische Weise ermordet, darunter 460 Frauen und Kinder.

Der Gedanke an Vergeltung spielte zunächst eine Rolle

Der Gedanke an Vergeltung spielte also eine Rolle, aber er war nie so stark, dass es zu Ermordungen oder Hinrichtungen kam. Nur einmal, als am 29. April in Weilimdorf ein Soldat erschossen wird, verhaften die Franzosen willkürlich 20 Männer und drohen, sie zu liquidieren. Erst, als sich herausstellt, dass ein Kamerad der Täter ist, und als der OB energisch auf die Einhaltung der Haager Landkriegsordnung pocht, wird von der Hinrichtung abgesehen. Die Männer bleiben dennoch zehn Wochen in Haft.

Im Laufe des Mai normalisiert sich die Lage ein wenig. Schon am 29. April wird der Schießbefehl zurückgenommen, bald dürfen die Wirtschaften wieder öffnen. Es gibt sowieso viele Soldaten, die nicht als Besatzer kommen. Manche schwärmen von der deutschen Literatur und können nicht verstehen, wie dieses deutsche Volk in eine solche Barbarei verfallen konnte. Und manche haben beim Vormarsch auf Stuttgart schlicht Erbarmen, wenn sie auf den Volkssturm stoßen und plötzlich 15-jährige heulende Jungs vor sich haben.

Für viele junge Deutsche brach eine Welt zusammen

Wer ein wenig Französisch kann, ist im Vorteil: „Mein Vater lud die Soldaten zu einem Vesper ein, dann ließen sie uns in Ruhe“, erzählt Heinz Kohlmaier. Und im Haus von Brigitte Döker, zwölf Jahre alt und auf der Lenzhalde wohnend, lebt ein französischer Kriegsgefangener: „Der hat mit den Soldaten gesagt: ‚Hier wohnen gute Leute, da dürft ihr nicht rein.’“

Richard von Weizsäcker hat das Kriegsende in seiner berühmten Rede vom 8. Mai 1985 als Befreiung von einem menschenverachtenden System bezeichnet. Das war es auch, und manche sahen es auch so. Hermann Albrecht aus Luginsland, wo am 22. April die Amerikaner einmarschiert waren, erinnert sich: „Die Kinder bekamen sofort Schokolade und Kaugummi, die Erwachsenen Zigaretten. Alle waren sich einig: Es war ein gutes Gefühl, und alle betrachteten es als echte Befreiung.“

Doch bei sehr vielen Stuttgarter überwogen schlicht die Sorgen. In beinahe jeder Familie waren Angehörige ums Leben gekommen, Stuttgart war zu großen Teilen zerstört, und es gab wenig zu essen. Gertrud Zuck, damals 23 Jahre alt und in Gaisburg wohnend, weiß noch gut: „Oft sind wir stundenlang angestanden, und wenn man endlich drankam, hieß es, dass es nichts mehr gebe. Meine Mutter ist oft weinend heimgekommen – das hat uns so weh getan.“ Es ist zuviel für einen Menschen, was damals zu tragen ist. Als die StZ jetzt mit annähernd 30 Zeitzeugen spricht, zeigt sich immer wieder: Die Wunden sind kaum vernarbt; manchmal reicht ein Wort und der alte, große Schmerz ist wieder da.

Manche Stuttgarter sahen die Besetzung als Befreiung

Und was würde nun die Besatzungszeit bringen? Vor allem die jungen Stuttgarter kennen nichts anderes als die nationalsozialistische Welt und deren Propaganda. Manche wollen die Niederlage noch immer nicht einsehen, wie eine 14-Jährige aus Heslach, die am 22. April in ihr Tagebuch schreibt: „Nun sind wir auch in Feindeshand. Das ist schwer betrübend, aber der Führer wird unsere Stadt wieder erobern und uns befreien. Ich vertraue wie nie zuvor auf ihn. Gott gebe ihm die Kraft dazu.“

Und viele fühlen sich verraten, wie der damals 15-jährige Horst Schmid: „Die Ideale, an die wir geglaubt hatten, das deutsche Vaterland, unsere Zukunft, alles hatte sich in Nichts aufgelöst. Alle Opfer an Leib und Leben, an Hab und Gut waren umsonst gewesen. Ich hätte heulen können.“ Eine ganze Generation ist belogen, indoktriniert und um ihre Jugend betrogen worden.

Im Juli kommen die Amerikaner nach Stuttgart

Doch in solchen extremen Situationen scheint es in der Natur des Menschen zu liegen, auch das Positive zu sehen. Gertrud Zuck sagt: „Endlich konnten wir nachts wieder durchschlafen nach all den Bomberangriffen.“ Das war schön. Es waren nicht nur die befreiten Zwangsarbeiter in Stuttgart, die nach dem Einmarsch der Franzosen in den Straßen gejubelt haben.

Bis zum 8. Juli halten die französischen Truppen Stuttgart besetzt, dann müssen sie den Amerikanern weichen: „Jetzt wurde es ruhiger; die Amerikaner waren nicht so aufdringlich“, sagt Gertrud Zuck.

70 Jahre sind seither vergangen, 70 Jahre im Frieden. Zu den Menschen in Frankreich ist eine aufrichtige Freundschaft entstanden. Aus der Perspektive jener letzten Kriegstage war das beinahe undenkbar.