Beim Atomausstieg ist die Zwischenbilanz ein Jahr nach Fukushima positiv. Aber die größten Brocken beim Umbau der Energieversorgung kommen erst noch.

Politik/Baden-Württemberg : Bärbel Krauß (luß)

Berlin - Ein Jahr nach Fukushima zieht die rot-grüne Opposition eine vernichtende Bilanz der Energiewende. Die Bundesregierung dagegen sieht sich beim Atomausstieg auf gutem Weg. Die Wahrheit liegt dazwischen. Hier sind die wichtigsten Posten für eine Zwischenbilanz.

 

1. Atomausstieg

Von der Energiewende in Deutschland kann die Bundesregierung ein Jahr nach dem Reaktorunglück, das sie ausgelöst hat, tatsächlich nur ein einziges Projekt als erledigt abhaken: Die sieben ältesten Kernkraftwerke in Deutschland und der Pannenreaktor Krümmel sind mit dem Moratorium abgeschaltet worden und nie wieder ans Netz gegangen. Der erste große Schritt zur Energiewende wurde also ganz am Anfang gemacht.

Bis Ende 2022 sollen die übrigen Kernraftwerke schrittweise vom Netz gehen. Dass das genauso reibungslos funktioniert wie der erste Schritt, ist unwahrscheinlich. Denn die aufwendigen Veränderungen stehen noch aus. Aber bisher gingen weder die Lichter aus, noch mussten die Bürger frieren, obwohl die Atommeiler letztes Jahr 33 Terawattstunden weniger zur Stromversorgung beigetragen haben als 2010.

Ein bisschen hat das Wetter dabei geholfen, den Ausfall zu kompensieren. Der Bundesverband Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) hat ausgerechnet, dass allein wegen der milden Witterung in der kalten Jahreszeit, einem ausgesprochen warmen Frühling und einem kühlen Sommer der Stromverbrauch in der Republik um zwei Terawattstunden gesunken ist. Kompensiert wurde die weggefallene Kernenergie im wesentlichen durch alternative Energiequellen (19 Terawattstunden mehr als 2010) und dadurch, dass 12 Terawattstunden weniger Strom aus deutschen Kraftwerken ins Ausland exportiert wurden als im Jahr zuvor.

Ausblick: Bisher ist es gelungen, die Versorgung zu gewährleisten, wenngleich sensible Industriebranchen über stärkere Schwankungen der Stromqualität klagen. Damit ist der erste Winter – fast schon – überstanden, für den die Bundesnetzagentur Stromengpässe vor allem in Süddeutschland prognostiziert hatte. Das ist aber noch kein Grund zur Entspannung: Für den nächsten Winter hat die Behörde die gleiche Problematik vorhergesagt.

2. Energiemix

Schon im ersten Jahr nach dem Ausstiegsbeschluss sind die alternativen Energiequellen – vor allem Wind, Biomasse und Sonne – nach der Braunkohle zum zweitwichtigsten Stromlieferanten geworden. Ein Fünftel der Bruttostromerzeugung stammt nach Angaben des BDEW von den erneuerbaren Energien - im Jahr zuvor waren es noch 16 Prozent. Damit haben die Ökoenergien die Atomkraftwerke überholt, deren Anteil binnen Jahresfrist von 22 auf 18 Prozent gesunken ist. Den ersten Rang unter den Energieträgern behauptet nach wie vor die Braunkohle, aus der 25 Prozent des Bruttostrommenge gewonnen werden. Laut Umweltministerium haben die Ökostromer 2011 rund 122 Milliarden Kilowattstunden Strom erzeugt. Das stürmischste Wachstum haben nicht die Windräder erzielt, die ihren Anteil am Endenergieverbrauch um 23 Prozent erhöht haben, sondern die Solaranlagen. Im Boomjahr 2011, in dem Neuanlagen mit einer Leistung von 7500 Megawatt zusätzlich in Betrieb gegangen sind, hat die Fotovoltaik ihren Anteil um 62,4 Prozent erhöht.

Ausblick: Was die Ökostromer freut, bereitet Politikern und Netzbetreibern zunehmend Sorge. Denn es wird schwieriger, bei den extrem schwankenden Stromeinspeisungen vor allem der Solaranlagen, für eine stabile Spannung im Netz zu sorgen und sicherzustellen, dass tagein tagaus und rund um die Uhr aus jeder Steckdose der Republik Strom fließt. „Das starke Wachstum der Erneuerbaren Energien ist erfreulich, erhöht aber gleichzeitig den Handlungsdruck für den Netzausbau, die Übernahme von Systemverantwortung und die Marktintegration der Erneuerbaren Energien“, sagt die BDEW-Hauptgeschäftsführerin Hildegard Müller warnend. Mit einer Novellierung des Erneuerbaren-Energie-Gesetzes versucht die Bundesregierung gegenzusteuern. Ihr Ziel ist, das Wachstum beim Zubau von Solaranlagen zu dämpfen und Anreize zu setzen, damit die Betreiber ihren Sonnenstrom selbst verbrauchen, anstatt ihn ins Netz einzuspeisen.

Ein weiteres Problem ist, dass sich bei Gaskraftwerken nichts bewegt. Sie sollen in Zukunft als Reservekraftwerke anspringen, wenn Flaute die Windräder und Wolken die Fotovoltaikanlagen außer Betrieb setzen. Aber es gibt keine Neubauten und noch nicht einmal Pläne dafür. Der Grund: Je höher der Anteil der „Erneuerbaren“ am Strommix wird, desto weniger Strom können die Gaskraftwerke absetzen. Die Margen, die so zu erzielen sind, reichen laut Experten bei weitem nicht, um die Kraftwerkskosten zu decken. Auf dieser Basis nimmt kein Investor Geld in die Hand. Eine Lösung des Problems ist nicht in Sicht.

3. Netze

Die Stromnetze haben bisher zuverlässig funktioniert. Blackouts, wie sie in anderen Staaten ab und zu vorkommen, sind seit Jahrzehnten unbekannt in Deutschland. Das hat sich allen Befürchtungen zum Trotz mit dem Beschluss zum Atomausstieg auch nicht geändert. Allerdings ist es sehr viel komplizierter geworden die Stromnetze stabil zu halten. Die Betreiber müssen öfter eingreifen, damit der Strom fließen kann. Die offiziellen Zahlen werden erst Mitte April vorliegen, wenn die Netzbetreiber ihre „Bilanzkreisabrechnungen“ vorlegen. Amprion, einer der vier großen Netzbetreiber, kannte vor dem Ausstiegsbeschluss nach eigenen Angaben praktisch gar keine schwerwiegenden Eingriffe ins Netz und musste 2011 „mehrmals in der Woche“ massiv intervenieren.

Das größte Risiko beim Umbau der Energieversorgung ist, dass viele tausend Kilometer Netze fehlen. Schon beim 2009 festgestellten Bedarf von 1800 Leitungskilometer sind die Hälfte der 24 Ausbauprojekte nach Angaben der Bundesnetzagentur „verzögert“ - nur 200 Kilometer sind bisher gebaut. Mit dem Atomausstieg ist der Bedarf nach Leitungen, die den Offshore-Windstrom aus dem Norden in die Industrie- und Ballungszentren im Süden Deutschlands bringen sollen, weiter gewachsen. Wie viele neue Leitungen genau gebraucht werden, tüftelt die Bundesnetzagentur derzeit aus. Im Sommer soll ein Netzentwicklungsplan vorliegen, im Herbst ein Bundesbedarfsplan folgen.

Ausblick: Dass der Ausbau nicht recht vorankommt, liegt nicht an fehlenden Berechnungen der Bundesnetzagentur. Tatsächlich hakt die Zusammenarbeit zwischen Umwelt- und Wirtschaftsminister in Berlin und zwischen Bund und Ländern. Bisher haben Planung und Genehmigung für neue Netze zehn Jahre gedauert. Die Bundesregierung hat zwar eine Beschleunigung auf vier Jahre beschlossen und dazu Planungskompetenzen auf die Bundesebene gezogen und den Ländern auferlegt, die Verwaltungsverfahren zu vereinheitlichen. Aber die Arbeit daran verläuft schleppend.

4. Akzeptanz

Die Bürger stehen im Grundsatz nach wie vor zum Atomausstieg. Das haben nicht nur die bundesweiten Demonstrationen vom Wochenende gezeigt. Laut dem aktuellen „Politbarometer“ sind 76 Prozent der Bürger für den Atomausstieg. 40 Prozent der Befragten wünschen sich sogar eine Beschleunigung der Energiewende.

Ausblick: Wie die Betroffenen sich verhalten, wenn Windräder hinter ihrem Haus oder Stromtrassen über ihr Grundstück geführt werden sollen, steht gleichwohl auf einem anderen Blatt. Seit Jahren sieht Stephan Kohler, der Chef der Deutschen Energieagentur (Dena), den „massiven Widerstand in der Bevölkerung“ als „Hauptproblem“ für den Netzausbau. Matthias Kurth, der vor kurzem abgetretene Chef der Bundesnetzagentur, meint die Deutschen seien zwar für den Ausstieg. „Aber sicherlich haben sie noch nicht die Konsequenzen für den Ausbau der erneuerbaren Energiequellen und den Stromnetzausbau realisiert.“ Er ist überzeugt, dass eine frühe Einbeziehung der Bürger und die Beschleunigung der Verfahren Hand in Hand gehen muss. Allerdings ist hinter den Kulissen die Angst vor einer Eskalation des Widerstands groß. Das Bundesverwaltungsgericht sieht wegen des Netzausbaus schon eine Klagewelle auf sich zurollen.

5. Energieeffizienz

Gar keine Fortschritte hat es 2011 bei der Verbesserung der Energieeffizienz gegeben. Dabei geht es darum, aus weniger Energie mehr Leistung zu gewinnen. Die Experten sind sich einig, dass Klimaschutz und Energiewende ohne bessere Energieeffizienz nicht funktionieren. Weil ein Drittel der Primärenergie in Deutschland beim Heizen von Gebäuden verbraucht wird, ist die Gebäudesanierung der Schlüssel für mehr Energieeffizienz. Umso unverständlicher ist, dass Bund und Länder sich seit vergangenen Sommer über die steuerliche Förderung von Gebäudesanierungen streiten. Die Länder fordern zwar mehr Geld für dieses Anliegen, sind aber selbst nicht bereit, ihren Anteil zu bezahlen.

Ausblick: Auch wegen dem Streit ums Geld hat jetzt keiner hat ein Rezept, wie die von der Regierung fest eingeplante Senkung des Energieverbrauchs um zehn Prozent bis 2020 erreicht werden kann. Dena-Chef Kohler fordert deshalb zum Jahrestag von Fukushima einen Paradigmenwechsel: Einsparung müsse künftig vor Erzeugung gehen. Priorität müssen laut Stephan Kohler die Themen erhalten, „auf die es wirklich ankommt: Energieeffizienz, Energieeffizienz, Energieeffizienz.“