Er gilt als Englands schlechtester Herrscher. Dabei verdanken die Briten gerade ihm ein Dokument, das die Entwicklung moderner Demokratien beeinflusst hat - die Magna Charta.

Runnymede - Ein Spaziergang über die berühmteste Wiese der Welt ist überraschend unspektakulär. Runnymede Meadows, in der englischen Grafschaft Surrey gelegen, ist eine ganz gewöhnliche Wiese, etwa so groß wie drei Fußballfelder. Sie liegt in einem Flusstal am Stadtrand von London und ist - abgesehen von unzähligen Maulwurfshügeln - vollkommen flach und von struppigen Grasbüscheln bedeckt. Auf den ersten Blick deutet nichts darauf hin, dass sich auf diesem Flecken Erde am 15. Juni 1215 ein Ereignis zugetragen hat, das nach Ansicht von Historikern und Rechtsgelehrten nicht nur die Geschichte Englands, sondern auch die der gesamten Welt nachhaltig beeinflusst hat - die Unterzeichnung der Magna Charta Libertatum (zu Deutsch: große Urkunde der Freiheiten). Das mittelalterliche Dokument gilt, obwohl es zunächst nur dem Adel bestimmte Privilegien und Grundrechte garantierte, als Meilenstein auf dem Weg zur Entwicklung moderner Demokratien. Darauf sind die Briten von jeher stolz.

 

Und so werden in diesem Jahr 800 Jahre Magna Charta mit dem für das Inselvolk so eigentümlichen „pomp and circumstance“, also mit Prunk und Getöse, gefeiert - und zwar das ganze Jahr über. Mehrere Hundert Veranstaltungen werden es insgesamt sein, darunter Ausstellungen, Konferenzen, Lesungen, Festivals, Konzerte und Theateraufführungen. Höhepunkt ist ein feierlicher Festakt in Runnymede am 15. Juni, zu dem auch viele prominente Gäste aus dem Ausland erwartet werden. Jeremy Silverstone von der Stiftung National Trust, die Runnymede Meadows seit 1931 verwaltet, kennt die Gästeliste, darf aus Sicherheitsgründen jedoch nichts verraten. Nur so viel: Auch Her Majesty, Königin Elisabeth II, wird anwesend sein. Einer ihrer Vorgänger kam dagegen seinerzeit nur höchst unfreiwillig auf die Wiese am Fluss Themse: König Johann von England (1167-1216). Der kleine Bruder von Richard Löwenherz gilt als Versager mit allen Attributen eines typischen Unsympathen: starrsinnig, unbeherrscht, habgierig, rachsüchtig, hinterlistig und gemein. Jeder, der eine der unzähligen Verfilmungen über Robin Hood gesehen hat, hat ein Bild von King John, der mit Hilfe seines bösartigen Handlangers, des Sheriffs von Nottingham, seine Untertanen unterdrückte und mit horrenden Steuern und Abgaben auspresste.

Warum gerade in Runnymede?

Wie alle Legenden hat auch die von Robin Hood einen wahren Kern. „König Johanns Regierungsstil war in der Tat herrisch, und seine Kriegszüge nach Frankreich sowie sein ausschweifender Lebensstil verschlangen Unsummen“, berichtet Jeremy Silverstone. Dadurch habe er den englischen Adel so gegen sich aufgebracht, dass dieser offen gegen den König rebellierte. „Als sich auch die Stadt London auf die Seite der Rebellen stellte, erkannte der König, dass er Zugeständnisse machen musste, und besiegelte auf den Runnymede Meadows zähneknirschend die Magna Charta, in der sich der Adel in 63 Klauseln weitreichende Privilegien und Grundrechte zusichern ließ“. Warum gerade in Runnymede? Darüber gibt es verschiedene Spekulationen. Die Wiese liegt etwa auf halbem Wege zwischen der City of London und Schloss Windsor, auf dem sich König Johann bevorzugt aufhielt. „Möglicherweise war es Teil des Deals, dass man sich in der Mitte begegnet“, mutmaßt Silverstone. Vielleicht habe man diesen sumpfigen Ort am Ufer der Themse aber auch ausgewählt, um eine Eskalation zwischen dem König und seinen Begleitern sowie den Adligen zu verhindern. „Eine Schlacht wäre auf dem morastigen Untergrund wohl kaum möglich gewesen“, sagt Silverstone und blickt verschmitzt hinunter auf seine Gummistiefel, die auch heute noch nützlich sein können bei einem Spaziergang auf den Runnymede Meadows. Das Recht, dass der König keine Steuern mehr ohne die Zustimmung der Adeligen erheben durfte, gehört zu den wichtigsten Klauseln der Magna Charta.

Da dies regelmäßige Zusammenkünfte des Adels beziehungsweise von Repräsentanten des Adels notwendig machte, ebnete das Dokument nach Ansicht von Historikern Englands Weg in die parlamentarische Demokratie. Über 500 Jahre später findet sich diese Klausel fast wörtlich in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung wieder („No taxation without representation“). Ferner verlangten die Adeligen in der Magna Charta das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren und das Verbot unverhältnismäßiger Bestrafung. „Es ist nicht übertrieben, in der Magna Charta jene Urkunde zu sehen, die die Voraussetzung dafür geschaffen hat, dass sich mehr und mehr bürgerliche Freiheiten und Rechte durchsetzen konnten. Zuerst hier bei uns, auf der britischen Insel, und später auf dem europäischen Kontinent“, sagt Jeremy Silverstone und führt seine Gäste zum einzigen Denkmal, das in Runnymede an die Unterzeichnung der Magna Charta erinnert: ein klassizistischer Rundbau mit Säulen, der seit 1957 auf einer kleinen Anhöhe am Rand von Runnymede Meadows thront.

„Magna Carta, Law, Liberty, Legacy“

Vier zeitgenössische Abschriften der Magna Charta sind bis heute erhalten. Zwei befinden sich im Besitz der Kathedralen in Lincoln und Salisbury, die beiden anderen gehören der Britischen Nationalbibliothek in London und sind das Herzstück der Ausstellung „Magna Carta, Law, Liberty, Legacy“ die noch bis 1. September dort zu sehen ist. „Diese Abschriften waren schon immer unser Sightseeing-Magnet Nummer eins, nicht nur im Jubiläumsjahr“, betont Kurator Julian Harrison, dessen Team vier Jahre Arbeit investierte, um die rund 200 Exponate der Ausstellung zusammenzutragen, darunter Leihgaben aus dem Ausland wie zum Beispiel die Unabhängigkeitserklärung der USA von der Hand ihres Verfassers, Thomas Jefferson. Die Abschrift der Magna Charta, mit Tinte auf ein Pergament aus Kalbsleder gekritzelt, sieht gar nicht aus, wie man sich einen 63-Punkte-Katalog vorstellt: Es gibt weder nummerierte Absätze noch eine klare Gliederung. Stattdessen ist das Pergament mit winzigen verschnörkelten Buchstaben in mittelalterlichem Latein beschrieben.

„Es ist ein fortlaufender Text von etwa 4000 Wörtern“, erklärt Harrison fachkundig. Zu der wirklich sehenswerten Schau gehören außerdem farbenprächtig illuminierte Handschriften, Gemälde, Porträts, Siegelpressen und Ritterschwerter und - hinter Glas wie Reliquien - Kleidungsreste, zwei Backenzähne und der Daumenknochen jenes Mannes, dem englische Adlige am 15. Juni 1215 auf einer Wiese an der Themse ihren großen Freiheitsbrief abtrotzten: King John. Die Magna Charta galt übrigens nur etwas mehr als zwei Monate. Dann hatte Unsympath Johann Papst Innozenz III. überredet, das Dokument für nichtig zu erklären. Jedem, der die Magna Charta befolgte, stellte der Papst die Exkommunikation in Aussicht. Dass sie dennoch ein so bedeutendes Dokument werden konnte, ist eine lange Geschichte, die zu erforschen sich lohnt. Auf nach England!

Infos zu England

Anreise
Ab Stuttgart nach London zum Beispiel mit Easy Jet ( www.easyjet.com/de ), Germanwings ( www.germanwings.com ) oder British Airways ( www.britishairways.com ), ab 80 Euro pro Person.

Unterkunft
Zentral gelegen (der Picadilly Circus ist nur 200 Meter entfernt): Z Hotel Piccadilly, 2 Orange Street, London, DZ ab etwa 200 Euro, www.thezhotels.com.

Das Hotel The Runnymede-on-Thames, Windsor Road, Egham, Surrey, liegt ideal für einen Besuch der Runnymede Meadows, DZ ab 160 Euro www.therunnymede.co.uk

Magna-Charta-Jubiläum
Eine Übersicht über sämtliche Veranstaltungen im Magna-Charta-Jahr gibt es unter http://magnacarta800th.com. Man kann sich aber auch auf eigene Faust auf Spurensuche begeben: Das britische Fremdenverkehrsamt hat sechs zwei- bis viertägige Touren (Engl.: trails) ausgearbeitet, auf denen sich alle Sehenswürdigkeiten des Landes, die mit der Magna Charta im Zusammenhang stehen, erkunden lassen.

Karten und detaillierte Informationen unter: www.magnacartatrails.com.

Absolut sehenswert ist die Ausstellung „Magna Carta: Law, Liberty, Legacy“ in der British Library, 6 Euston Road, London, die noch bis 1. September zu sehen ist. Eintritt ca. 17 Euro, Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sind frei, www.bl.uk

Die Wiese, auf der die Magna Charta vor 800 Jahren unterzeichnet wurde, kann man besichtigen - auf eigene Faust oder mit einer Führung, Runnymede Estate Office, North Lodge, Royal Windsor, Berkshire, www.nationaltrust.org.uk/runnymede/

Schloss Windsor - das größte und älteste noch bewohnte Schloss der Welt - ist eine der offiziellen Residenzen von Königin Elizabeth II. und war einst das Lieblingsschloss von König Johann. Besucher erhalten einen Audio-Guide. Der Eintritt kostet für Erwachsene umgerechnet 27 Euro, für Kinder 16 Euro, Täglich geöffnet von März bis Oktober von 9.45 bis 17. 15 Uhr (letzter Einlass 16 Uhr), November bis Februar 9.45-16.15 Uhr (letzter Einlass 15 Uhr), www.royalcollection.org.uk