Es war ein höchst verwirrender Abend in Barcelona: Der katalanische Regierungschef Carles Puigdemont hat angekündigt, dass Katalonien unabhängig werden soll – allerdings nicht sofort. Es ist ein kluger Schachzug des Separatisten.

Korrespondenten: Martin Dahms (mda)

Stuttgart - Ist Katalonien jetzt ein unabhängiger Staat? Oder vielleicht erst in ein paar Wochen? Wer aus den Worten von Carles Puigdemont vor dem katalanischen Regionalparlament am Dienstagabend schlau werden wollte, musste den Blick weiten: Auf die Abgeordnetenbänke ganz hinten, wo die Vertreter der CUP sitzen, der linksradikalen Separatistenfraktion, ohne die der bürgerliche Regionalpräsident in den vergangenen zwei Jahren keinen Schritt tun konnte. Die rührten am Ende seiner halbstündigen Rede keine Hand. Aber dann trat Inés Arrimadas ans Rednerpult, die Chefin der oppositionellen Ciutadans, und sagte, Puigdemont habe gerade die Unabhängigkeit erklärt. Was war denn nun geschehen?

 

Um 19.35 Uhr hatte Puigdemont gesagt: „Mit den Ergebnissen des 1. Oktober hat sich Katalonien das Recht erworben, ein unabhängiger Staat in Form einer Republik zu sein.“ Klingt so eine feierliche Unabhängigkeitserklärung? Nein. Deswegen klatschten die CUP-Abgeordneten nicht, die mehr erwartet hatten. Außerdem hatte Puigdemont noch gesagt, dass man die Unabhängigkeit „einige Wochen“ aussetzen solle, um das Projekt der Abspaltung von Spanien im „Dialog“ voranzubringen. Einige Stunden später unterzeichneten Puigdemont und Dutzende weitere Abgeordnete ein als Unabhängigkeitserklärung bezeichnetes Dokument, verschoben aber deren Umsetzung. Die katalanische Republik hängt weiter in der Luft.

Die Demonstranten waren sich ihrer Sache sicher

Dabei war die Inszenierung dieses Abends wieder perfekt gewesen. Um 18 Uhr hatte Puigdemont reden wollen. Um diese Uhrzeit war das Parlament in Barcelona aber gerade einmal zur Hälfte gefüllt – da saßen die Oppositionsabgeordneten mit ernsten Gesichtern und warteten auf das, was für sie die Katastrophe wäre: die Unabhängigkeitserklärung durch Puigdemont. Doch der kam einfach nicht. Stattdessen schossen Dutzende Fotografen Bilder von den unglücklichen Parlamentariern auf der einen Seite des Saales, während die andere Seite noch leer war. Sie standen unter Spannung wie das ganze Land.

Puigdemont ließ sich Zeit. Das konnte ein gutes oder ein schlechtes Zeichen sein, auf alle Fälle hatten er und seine separatistische Parlamentsmehrheit mal wieder alle im Griff: die Katalanen, alle anderen Spanier und halb Europa. Ungerührt schienen nur die Demonstranten zu sein, etliche Tausend, herbeigebeten von der mächtigen katalanischen Separatisteninitiative ANC, die vielleicht mächtiger als die Regionalregierung ist. Die Demonstranten schwenkten entspannt ihre Unabhängigkeitsfahnen und glaubten fest daran, dass der Boden, auf dem sie standen, an diesem Abend einem neuen Staat gehören würde: der katalanischen Republik.

Die Regierung in Madrid bereitete Gegenmaßnahmen vor, jedenfalls behauptete das jeder Minister, der in diesen Tagen ein Mikrofon zu fassen bekam. Aber die Regierung hatte auch versprochen, das Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober zu verhindern. Es fand aber statt. Dieses Referendum, in einer irregulären Sitzung vom katalanischen Parlament beschlossen, vom Verfassungsgericht verboten, durchgeführt ohne rechtsstaatliche Garantien und vom Großteil der katalanischen Unabhängigkeitsgegner boykottiert, war nun der Vorwand für Puigdemont, vom Recht auf die eigene Republik zu sprechen.

Für deren Ausrufung wäre eigentlich das Parlament zuständig. Aber niemand traute den Separatisten noch zu, sich an irgendwelche – auch die eigenen – Regeln zu halten. Man konnte sich gut vorstellen, dass Puigdemont die Unabhängigkeit aus eigener Herrlichkeit erklären und sich danach in Handschellen von der spanischen Polizei abführen lassen würde. Alles war denkbar in dieser Stunde. Es muss ein erhebendes Gefühl sein, Geschichte zu machen.

Beobachter meinen, Puigdemont habe einen klugen Schachzug gemacht: Er steht nun als gesprächsbereiter Gutmensch da, der noch einmal versucht, seiner Regierung und seinem Abspaltungsvorhaben Seriosität zu verleihen: „Wir sind keine Verbrecher, keine Verrückten, keine Putschisten“, ruft er und fügt ernst hinzu: „Ich appelliere an die Verantwortung aller. Die spanische Regierung fordere ich dazu auf, eine Vermittlung zu akzeptieren.“ Josep Borrell, der kluge katalanische Sozialist und Ex-Präsident des Europaparlaments schrieb auf Twitter: „Sie werden die Tragödie verhindern, aber mit der Komödie fortfahren.“