Jedes Jahr kommt die Grippe. Und jedes Jahr müssen Wissenschaftler ein neues Vakzin entwickeln. Denn die Grippeviren verändern sich ständig – und man kann nur schwer abschätzen, wie sich die Veränderung auswirkt.

Stuttgart - Woher Influenza-B-Victoria kam, weiß eigentlich keiner so genau. Manche meinen, das Virus hätte schon zuvor in China sein Unwesen getrieben. Andere vermuten, der Grippe-Erreger habe sich schon zuvor verbreitet. Fest steht nur, 1987 steckte ein bis dahin völlig unbekanntes Influenzavirus Menschen an und vertrieb den Vorgänger-Keim vom Planeten. Anfang der 1990er Jahre tauchte Konkurrent B-Yamagata allerdings wieder aus der Versenkung auf. Und seitdem die beiden Grippe-Viren gemeinsam um den Globus kreisen, hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein Problem: Ihr Impfstoff schützt nur gegen einen der Stämme.

 

Welche Folgen das hat, mussten gerade die Australier erleben. Dort hatte man sich auf einen lauen Grippewinter eingestellt. Dann stellte man fest, dass der diesjährige Grippe-Impfstoff eine Lücke hat. Vor allem viele Kinder stecken sich mit dem Überraschungsgast B-Victoria an. In den kommenden Monaten, warnen Wissenschaftler in der Fachzeitung „Eurosurveillance“, könnte auch Deutschland diese Probleme erben. Hiesige Vakzine weisen ähnliche Lücken auf. „Mismatch“ (Nichtübereinstimmung) nennt der Mediziner solche Fehltreffer. In Deutschland hat man erst im vergangenen Winter Erfahrung damit gemacht. Die Notaufnahmen der Kliniken quollen über, im besonders betroffenen Baden-Württemberg gab es zehnmal mehr gemeldete Erkrankte und dreimal mehr Todesfälle als in dem eher durchschnittlichen Influenzajahr 2013. Damals hatte sich die Vakzine gegen einen entfernteren Verwandten von B-Victoria als kaum wirksam erwiesen. Zusätzlich zu den beiden B-Erregern sind auf der Welt auch zwei Influenza-A-Viren unterwegs. Daher enthält der klassische Grippe-Impfstoff neben der einen B- auch zwei A-Komponenten.

Analyse der verschieden Impfstoffe

Die WHO versucht alles, um genau solche Probleme zu vermeiden. In 151 Grippezentren analysiert sie alle weltweit zirkulierenden Influenzastämme und spekuliert, gegen welchen davon man sich im nächsten Jahr am besten schützen sollte. Im September wird über den Impfstoff für die Südhalbkugel entschieden, im Februar der für die nördliche Hälfte des Planeten zusammengestellt. Der Grund für diese frühen Vorausplanungen, sagt Wenqing Zhang, die Sprecherin des Influenza-Programms der WHO, seien die langwierigen Herstellungsprozesse bei den Impfstoffen.

2013 hatte die WHO jedoch das falsche A-Virus in die Vakzine gemischt. Solche Probleme sind keine Seltenheit: Zwischen 1987 und 1997 waren nur 23 der 30 ausgewählten WHO-Impfdosen ein Volltreffer. Der Grund: Die Abwehrzellen erkennen den Grippe-A-Erreger an den charakteristischen Dornen auf seiner Oberfläche, dem H (für das Enzym Hämagglutinin) und dem N ( für das Enzym Neuraminidase). Insgesamt 18 verschiedene H-Stacheln kennt der Fachmann, die bekannten Neuraminidase-Typen werden mit den Zahlen 1 bis 11 gekennzeichnet. Zwar sind seit 40 Jahren die beiden Influenza-A-Erreger H3N2 und H1N1 Stammgäste auf der Nordhalbkugel, aber auch sie tarnen sich durch kleine genetische Mutationen jedes Jahr neu. Damit der Impfstoff weiter wirkt, muss die WHO deshalb jedes Jahr nachbessern. Bei den Influenza-B-Viren erwischen die Impfstoffexperten nur in jedem zweiten Jahr den richtigen Stamm. 2012 hat ein Mitarbeiter der US-Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control and Prevention, kurz CDC, in der Fachzeitung „Vaccine“ ausgerechnet, was ein solcher Fehlgriff in den USA für Konsequenzen hat: Bis zu 970 000 zusätzliche Infizierte, 8200 Krankenhauseinweisungen und 485 Tote seien bei einem Yamagata/Victoria-Mismatch pro Jahr zu erwarten.

Die WHO hat inzwischen reagiert und empfiehlt seit 2013 nicht nur das gängige sogenannte trivalente Serum, sondern zusätzlich ein tetravalentes Vierfach-Serum, das beide B-Stämme enthält. Zu welchem sie greifen, bleibt den Staaten und Unternehmen freigestellt. Auch für die Bundesbürger, sagt Klaus Cichutek, der Präsident des zuständigen Paul-Ehrlich-Instituts, stehen zwei tetravalente Impfstoffe zur Verfügung, einer davon ist nur für Kinder und Jugendliche zugelassen. Bei Erwachsenen wird die deutlich teurere Vierfach-Vakzine laut dem Verband forschender Arzneimittelhersteller allerdings nicht von den gesetzlichen Kassen übernommen. Sie muss aus eigener Tasche bezahlt werden. Zudem kommen die tetravalenten Impfstoffe hierzulande gerade mal auf einen Marktanteil von weniger als zwei Prozent – sie könnten also nicht, so das PEI, die gängige Dreifach-Vakzine ersetzen. „Allerdings muss man abwarten, ob B-Victoria bei uns wirklich eine so große Rolle spielen wird“, sagt Cichutek. Noch seien die Ereignisse in Australien nicht mehr als ein Hinweis darauf, dass der Erreger auch in Deutschland vor der Tür stehen könnte.

Ein Virus ist schon da

Schenkt man dem Infektionsepidemiologen Trevor Bedford vom Fred Hutchinson Cancer Research Center im amerikanischen Seattle Glauben, spricht allerdings noch ein zweites Indiz für dieses Szenario: B-Victoria ist schon da. In den USA machte das Virus laut CDC im vergangenen Winter ein Drittel der B-Stämme aus. Auch hierzulande konnte man es neben H3N2 identifizieren. „B-Viren-Stämme nisten sich häufig in einer Region längerfristig ein und tauchen im nächsten Jahr erneut auf“, sagt der Biologe. Über den Sommer steckt sich unbemerkt immer wieder jemand an, im Winter sorgen sie für überfüllte Arztpraxen.

H3N2 wiederum, so Bredford, zieht sich mit dem Ende der kalten Jahreszeit nach Südostasien zurück. Laut seinen Analysen von Virusgenomen steht in Südchina, Thailand und Umgebung gewissermaßen die Wiege aller Influenzaerreger. Vor allem das besonders wandelbare H3N2-Virus findet hier stets Bedingungen, die es ihm erlauben, sich zu vermehren, das Erbgut zu verändern und sich zu maskieren. Kaum sinken in Europa oder Australien die Temperaturen, macht es sich wieder auf den Weg.

Diesmal scheint die Tarnung nicht besonders gut gelungen. Kürzlich verkündete die amerikanische CDC, dass die WHO bei beiden Influenza-A-Impfstoffen den richtigen Riecher hatte – gegen beide frisch aufgetauchten Viren sei der Schutz sehr gut. Dasselbe gelte für B-Yamagata. Allerdings: Auch B-Victoria wurde von der Behörde schon auf der Nordhalbkugel gesichtet. Früher oder später, daran hat auch PEI-Chef Cichutek wenig Zweifel, führt auch in Deutschland kein Weg an einer generellen Umstellung auf Vierfachimpfstoffe vorbei.