2009 ist der Afghane Wahed Alizade nach einer sechsmonatigen Flucht in Stuttgart gestrandet. Inzwischen strebt der 19-Jährige die Fachhochschulreife an.

Stuttgart - Dies ist eine unwahrscheinliche Geschichte. In ihr finden drei Menschen zueinander, die einst rund 6000 Kilometer voneinander entfernt lebten, die sich nie getroffen und nie ein Wort miteinander gewechselt hätten, wenn nicht der Krieg und der Tod das Leben von einem von ihnen beinahe zerstört hätten. Heute sind sich die drei sehr nahe. Wahed ist 19 Jahre alt, er ist südöstlich der afghanischen Hauptstadt Kabul aufgewachsen. Von seiner einst fünfköpfigen Familie lebt nur noch seine Mutter. Waheds Vater kam bei einem Selbstmordanschlag ums Leben, einer seiner Brüder trat auf eine Mine, der andere wurde erschossen.

 

Ein Herbsttag im Stuttgarter Westen. Die Bäume im Garten verlieren ihre Blätter, es riecht würzig nach verbranntem Holz. Wahed rückt mit dem Stuhl an den Wohnzimmertisch. Neben ihm sitzen Irmgard und Andreas Dreyfuss – er unterrichtet an der Schloss-Realschule, sie arbeitet als technische Zeichnerin. Die beiden sind Anfang und Mitte sechzig, für Wahed sind sie Pateneltern in seiner neuen Heimat geworden.

Stuttgart – diese Stadt lag für Wahed außerhalb seiner Vorstellungskraft, als er im Juli 2009 vor dem Krieg und den Taliban aus Afghanistan floh. Er war 16 Jahre alt, als seine Odyssee begann. Afghanistan, Iran, Türkei, Griechenland, Italien, Deutschland. Waheds Flucht dauerte sechs Monate. Fast die ganze Zeit war er völlig auf sich allein gestellt, bevor er wenige Tage vor Weihnachten mit einem Zug am Stuttgarter Hauptbahnhof ankam. Alles war fremd. Wahed besaß keinen Pass, seine an Asthma erkrankte Mutter hatte er in Teheran zurücklassen müssen. Wahed war Strandgut. Das liegt noch keine drei Jahre zurück.

Schwer krank in Afghanistan

Auch Irmgard und Andreas Dreyfuss können Geschichten über Afghanistan erzählen. In ihren Geschichten geht es jedoch nicht um Krieg, Terrorismus und Tod, sie handeln von einer Reise, die für beide ein gemeinsamer Traum war.

Anfang der 1970er-Jahre tanzten die beiden zum späten Takt der Flower-Power-Zeit. Sie war 22 und machte eine Ausbildung, er war sechs Jahre älter und arbeitete damals noch als Kaufmann bei einem Stuttgarter Unternehmen. Die beiden waren sich einig: So jung würden sie nicht schon im großen Schwarm der Angepassten mitschwimmen. Irmgard und Andreas Dreyfuss wollten die Freiheit und das Leben spüren. Sie schmiedeten Pläne, es sollte mit Bussen und Zügen von Stuttgart aus auf dem Landweg bis nach Malaysia gehen.

In einem iranischen Grenzort verwandelte sich ihr Traum plötzlich in einen Albtraum. Andreas Dreyfuss zog sich eine schwere Lebensmittelvergiftung zu. Es ging ihm schlecht, und es wurde immer schlimmer, als die beiden schon die Grenze zu Afghanistan passiert hatten. Mit letzter Kraft erreichten sie ein Hotel in der Stadt Herat, und Irmgard Dreyfuss wurde klar, dass sie jetzt unbedingt einen Arzt für ihren Mann finden musste. Mit Händen und Füßen redete sie auf den Chef des Hotels ein. Der verstand und rief einen Arzt. Als dieser Andreas Dreyfuss untersuchte, wusste er, dass er Medikamente benötigen würde, die er nicht bei sich hatte. In einem klapprigen Wagen fuhr Irmgard Dreyfuss mit dem Arzt über staubige Pisten, bis sie endlich eine Apotheke erreichten, die in einen Fels gemauert war und über der ein Kloster thronte. „Da standen lauter offene Gefäße herum“ erinnert sich Irmgard Dreyfuss „und daneben lagerten Gewürze.“

Mit Schleppern im Schlauchboot

Der Arzt wusste, wo jenes Mittel zu finden war, das ihrem Mann helfen würde. „Er weigerte sich, Geld von uns anzunehmen“, erzählt Andreas Dreyfuss, dem es damals rasch besser ging. „Schließlich hat er einen Dollar akzeptiert.“ Als das Paar aus Stuttgart Herat verlassen wollte, organisierte der Hotelchef ein Abschiedskonzert. „In Afghanistan haben wir großartige Menschen kennengelernt“, erzählt Irmgard Dreyfuss. Dieses Erlebnis auf der Sehnsuchtsreise im Jahr 1973 wird für Irmgard und Andreas Dreyfuss von da an immer mehr bleiben als nur eine gewöhnliche Erinnerung.

Fast vier Jahrzehnte später schlägt Irmgard Dreyfuss ihre Tageszeitung auf. Bei einer Geschichte bleibt sie hängen, sofort steigen die Bilder aus der Vergangenheit vor ihr auf. Am 9. Juli 2010 liest Irmgard Dreyfuss über die Flucht des jungen Abdul Wahed Alizade. Sie liest, wie der Tod den Jungen schon von Kindesbeinen an begleitete, wie Wahed im iranisch-türkischen Grenzgebiet auch noch von seiner Mutter Abschied nehmen musste. Sie erfährt, wie er mit Hilfe von Schleppern in einem Schlauchboot von der Türkei nach Griechenland gelangte und dabei fast ertrank. Wie Wahed sich in einen Lastwagen schlich und so von Griechenland nach Italien kam, dann nach Stuttgart. Endstation.

Das Schicksal des Jungen berührt Irmgard Dreyfuss sofort. „Wie kann es sein, dass er ganz allein hierherkommt und völlig schutzlos ist?“ Sie redet mit ihrem Mann, die beiden pflegen einen guten Kontakt zum Jugendamt, weil sie vor vielen Jahren bereits ein Kind adoptiert hatten. Wahed wohnt im Sommer 2010 in einem vom Jugendamt geführten Kinderhaus am Stadtrand. Er hat einen Asylantrag gestellt. Obwohl er erst vor einem halben Jahr angekommen ist, spricht er schon so gut Deutsch, dass er von sich und seinem Leben erzählen kann. Irmgard und Andreas Dreyfuss wollen etwas zurückgeben von jener Menschlichkeit, die ihnen selbst vor so vielen Jahren entgegengebracht wurde.

Wahed darf Stuttgart nicht verlassen

Bereits zwei Wochen nach dem ersten Anruf treffen die beiden Wahed und dessen Vormund im Kinderhaus. Andreas Dreyfuss erzählt dem Jungen, was die Afghanen einst für ihn getan haben. „Das war der Schlüssel für die Beziehung zu ihm, die wir anschließend aufgebaut haben.“ Von diesem Tag an begleitet das Paar Wahed, der in Stuttgart als Asylbewerber nur geduldet ist und die Stadt nicht verlassen darf. Irmgard und Andreas Dreyfuss machen mit ihm einen Ausflug an den Max-Eyth-See, sie gehen oft gemeinsam essen, sie unterstützen den Jungen bei Behördengängen und gehen gemeinsam zum Jugendamt.

Zwei Jahre sind darüber inzwischen vergangen, und in Waheds Leben ist nichts mehr so, wie es noch Mitte 2010 war. Das Scheue ist aus seinem Blick gewichen, seine Schultern sind breiter geworden. Wahed trägt jetzt einen Kinnbart und Koteletten, die Haare hat er modisch nach oben gegelt. Aus dem Jugendlichen ist ein junger Mann geworden, der sich immer wieder neue Ziele setzt. Vor Wahed liegt sein Lebenslauf auf dem Tisch, er blättert immer wieder darin, weil er nichts vergessen will. Es ging alles rasend schnell. Während sein Deutschkurs noch lief, gelang ihm der Hauptschulabschluss als Klassenbester, anschließend machte er die mittlere Reife: Wahed war mit seinem Notendurchschnitt nicht nur der Beste auf der Schule, er engagierte sich auch als Klassen- und Schulsprecher.

Wahed saugt das neue Leben in sich auf, als wisse er nicht, wie lange das alles gutgehen werde. Momentan besucht er eine Kaufmännische Berufsschule, in zwei Jahren will er die Fachhochschulreife schaffen. Die Robert-Bosch- und die Baden-Württemberg-Stiftung fördern ihn mit einem Stipendium, und das Jugendamt bezahlt eine kleine Wohnung, in der Wahed seit Anfang des Jahres allein lebt. „Ich wollte das unbedingt“, erzählt Wahed, „im Kinderhaus mussten wir um 22 Uhr zu Hause sein, aber ich war schon 18, ich war erwachsen!“ Anfangs fiel ihm die Abnabelung schwer: „Ich kam von der Schule nach Hause, und plötzlich war niemand mehr da.“

Fester Untergrund mit brüchigen Stellen

Aber Wahed hat sich in seinem selbstständigen Leben eingerichtet: Um 6 Uhr steht er auf, um 7 Uhr nimmt er die Stadtbahn, die Schule dauert bis zum späten Nachmittag. Abends steht Wahed oft am Herd. „Es gibt Bohnen, Kartoffeln, Nudeln oder Eier.“ Wahed grinst. Mit Freunden spielt er Fußball, vor anderthalb Jahren hat er eine Freundin beim persischen Neujahrsfest im Stuttgarter Gewerkschaftshaus kennengelernt. „Es ist erstaunlich, wie Wahed Baustein für Baustein in seinem Leben zusammengetragen hat“, sagt Andreas Dreyfuss.

Erstmals trägt ihn der Untergrund, auf dem Wahed in seinem Leben steht. Doch es gibt brüchige Stellen. „Die Flucht kann ich nicht vergessen“, erzählt der 19-Jährige, „einmal im Monat gehe ich zur Therapie.“ Seine Mutter fehlt ihm, es genügt ihm nicht mehr, nur mit ihr zu telefonieren. Wahed schaut aus dem Fenster. Ihn belastet auch, dass sein Asylantrag immer noch läuft – vor 14 Monaten war er beim Bundesamt in Ehningen zur Anhörung. Seitdem befindet er sich im Wartesaal der Bundesrepublik Deutschland. Seine Zukunft ist in der Schwebe. Wird sein Asylantrag angenommen oder abgelehnt? „Solange das nicht geklärt ist, kann ich mich im nächsten Sommer auch nicht auf einen Platz an der Fachhochschule bewerben“, erzählt Wahed.

Begegnung im Neuen Schloss

„Der Junge hat in seinem Leben so oft mit dem Rücken zur Wand gestanden“, sagt Andreas Dreyfuss, „er braucht jetzt Gewissheit.“ Wahed hofft darauf, endlich ein Dokument zu bekommen: Wahed Alizade; Augenfarbe: braun; Nationalität: Deutsch.

Auf den nächsten Dienstag freut sich Wahed besonders. Am Abend wird er einem Herrn begegnen, der genau wie er selbst eine Hochstehfrisur trägt. Der Mann wird einen Anzug tragen und Urkunden in der Hand halten, mit denen er 50 Schüler aus Zuwandererfamilien für ihre herausragenden Leistungen auszeichnet. Es wird der Tag sein, an dem der Ministerpräsident Kretschmann dem Berufsschüler Alizade, der vor drei Jahren kein Wort Deutsch gesprochen hat, die Hand schüttelt. Wahed trifft Winfried – eine unwahrscheinliche Begegnung. Irmgard und Andreas Dreyfuss werden auch im Weißen Saal des Neuen Schlosses sitzen und klatschen. „Das macht mich stolz“, sagt Wahed, der auch an seine Mutter in Teheran denken wird.