Wer zum Vegetarier wird, muss sich mit schwer verdaulichen Gegenargumenten auseinandersetzen, denn viele Leute scheinen dies als Provokation zu sehen. Eine Selbsterfahrung.

Nachrichtenzentrale: Tim Höhn (tim)

Stuttgtart - Obwohl ich schon viele Jahre als Journalist arbeite, habe ich noch nie eine Geschichte aus der Ich-Perspektive geschrieben. Ich-Reportagen sind gefährlich, fleißige Ich-Schreiber gelten schnell als eitel, und die Texte driften gerne ins Selbstmitleidige ab. Ich mag keine Ich-Geschichten, trotzdem schreibe ich jetzt eine. Ich habe dafür wenig recherchiert, zumindest nicht im klassischen Sinn. Ich schreibe nur meine Erfahrungen auf. Meine Erfahrungen als Vegetarier.

 

Vor knapp drei Monaten habe ich beschlossen, kein Fleisch mehr zu essen. Es war eine spontane Entscheidung. Ich hatte einen Text über Massentierhaltung gelesen, und das war es dann. Viel nachgedacht habe ich darüber nicht, und ich habe mir auch nicht vorgenommen, nie wieder Fleisch zu essen. Ich habe es einfach gelassen und bin seither dabei geblieben, ohne dass es mich groß beschäftigt hätte. Der Verzicht fällt mir in diesem Fall nicht schwer, und vermutlich hätte ich inzwischen vergessen, dass ich nun zur Gruppe der Vegetarier gehöre, weil es so selbstverständlich für mich geworden ist. Keine große Sache. Wenn ich nicht von Mitgliedern einer anderen Gruppe immer wieder daran erinnert würde – von Menschen, die sich offensichtlich von Vegetariern persönlich angegriffen fühlen.

Wenige Tage nach meiner Entscheidung war ich mit Freunden im Urlaub, ein Kurztrip, machen wir jedes Jahr. Es wurde viel gelacht, viel getrunken und hin und wieder auch viel gegessen, und die Stimmung war entspannt. Bis ich in einem Restaurant einen Flammkuchen ohne Speck bestellte – womit raus war, dass ich Vegetarier bin. Einer von den vieren, ein sonst liebenswürdiger, intelligenter, gebildeter Mann, sagte es frei heraus: „Vegetarier sind bescheuert. Das ist doch ein reines Wohlstandsphänomen.“

Woraufhin die anderen begannen, mich zu verteidigen. „Ich finde, das ist eine gute Sache“, sagte einer. „Ich würde gern auf Fleisch verzichten, aber ganz kann ich das nicht“, sagte ein anderer. Ich habe nichts gesagt. Ich hätte lieber wieder über die miese Saison von Borussia Dortmund, die obskure Einrichtung des Lokals oder von mir aus über die deutsche Griechenlandpolitik geredet, aber das ging nicht mehr. Jetzt wurde über den Sinn und Unsinn von Vegetarismus gesprochen. Ich habe so lange meinen Flammkuchen gegessen.

Vegetarismus als Wohlstandsphänomen?

Das Argument mit dem Wohlstandsphänomen habe ich seither häufiger gehört. Von engen Freunden und entfernten Bekannten, bei Einladungen zum Essen oder wenn ich selbst Freunde einlade, in zwanglosen Runden oder bei förmlichen Abendterminen – es findet sich häufig jemand, der über Vegetarismus referiert, sobald sich auch nur der geringste Anlass dazu bietet. Ich bin inzwischen dazu übergegangen, nicht zu erwähnen, dass ich kein Fleisch esse. Immer gelingt das nicht.

Ich glaube, dass ich als Gast nicht sonderlich kompliziert bin. Kürzlich war ich in einer größeren Runde bei Bekannten zum Essen. Es gab Putenbrust auf Reis mit Soße. Ich verzichtete also auf die Pute, war aber mit Reis und Soße sehr zufrieden. Der Gastgeber war es allerdings nicht. „Für dich kann man dann ja gar nichts mehr kochen“, klagte er, um mir dann den Teller mit der Putenbrust unter die Nase zu halten. „Du verpasst etwas. In drei Monaten isst du doch eh wieder Fleisch.“ Und dann: „Uns geht es zu gut. In armen Ländern essen die Leute, was auf den Tisch kommt.“ Ein anderer Bekannter hat neulich sogar noch einen Gang höhergeschaltet und getadelt, Vegetarismus sei eine „Erste-Welt-Krankheit“.

Es ist richtig, dass Menschen in armen Ländern alles essen müssen, was auf den Tisch kommt, und sicher sind sie froh über jedes Stück Fleisch. Wo aber sowieso schon viel weniger Fleisch gegessen wird, ist auch Massentierhaltung ein geringeres Problem. Fast nirgends auf der Welt wird mehr Fleisch produziert als in Europa und in den USA. Dass Menschen meinen, sie müssten sich an sieben Tagen in der Woche Tier auf den Teller legen – das ist ein Wohlstandsphänomen. Und ein relativ neues noch dazu.

Unlängst erklärte mir jemand, dass in Südamerika pro Kopf mehr Fleisch verzehrt werde als in Deutschland. Bemerkenswert daran ist, dass nun Argentinien oder Brasilien als Vorbilder herhalten müssen, um massenhaften Fleischkonsum zu rechtfertigen. Länder, die von Deutschen sonst selten als gesellschaftspolitische Leuchttürme genannt werden und hierzulande überwiegend für den Fußball bewundert werden, der dort gespielt wird – und selbst die Zeiten sind vorbei.

Das schlechte Gewissen

Ich habe andere Vegetarier in meinem Freundeskreis gefragt, und alle berichteten, sie seien schon häufig beleidigt worden, nur weil sie kein Fleisch essen. Kürzlich habe ich dann doch den Versuch unternommen, etwas über die Gründe zu erfahren. Die Gelegenheit bot sich wieder bei einer Einladung zum Essen, diesmal bei älteren Leuten, und diesmal saß noch eine andere Vegetarierin am Tisch. Wir hatten beide angekündigt, dass wir uns statt des Fleischfondues eine kleine Portion Käsefondue zubereiten würden. Das sei kein Problem, hatte es im Vorfeld geheißen.

Aber als es dann so weit war, hielt mein Tischnachbar eine fünfminütige Einleitungsrede über Vegetarismus. Er selbst esse ja nur wenig Fleisch, aber ganz weglassen – das sei doch irgendwie komisch. Zum Leben gehöre doch nun einmal der Genuss, und man dürfe sich nicht alles verbieten, nicht alles schlechtreden lassen. Ich fragte ihn, warum er die Entscheidungen anderer nicht einfach toleriere und was ihn denn wirklich störe. Die Antwort: „Mich stört, wenn mir andere Leute ein schlechtes Gewissen machen. Und mich stört der Fanatismus von Vegetariern und Veganern.“

Es gibt bestimmt fanatische Vegetarier, aber ich kenne keine. Mich hat in all der Zeit, in der ich Fleisch gegessen habe, nie jemand dafür gerügt. In der sehr kurzen Zeit, in der ich keines mehr esse, wurde ich häufig kritisiert. Ich habe mittlerweile tatsächlich den Eindruck, dass das schlechte Gewissen eine Rolle spielt – an dem die Vegetarier aber sicher nicht schuld sind. Anders kann ich mir jedenfalls nicht mehr erklären, warum mir neuerdings regelmäßig Menschen versichern, dass sie selbst nur sehr wenig Fleisch essen. Sie erwähnen das, sobald sie erfahren haben, dass ich Vegetarier bin. Mir ist das völlig wurst. Ich hatte nie vor, andere zu bekehren. Mein kleiner Sohn isst gerne Lyoner, ich nehme sie ihm bestimmt nicht weg. Er soll mal selbst entscheiden, wie er leben und was er essen will. Sollte er Vegetarier werden, wird er manchmal ein dickes Fell brauchen und sich mit schwer verdaulichen Argumenten herumschlagen müssen.

Alles verkappte Spießer

Nicht nur das Wohlstandsargument, auch das Genussargument ist weit verbreitet. In einer renommierten deutschen Zeitschrift las ich unlängst ein Interview mit einer Gesundheitsexpertin, die triumphierend erklärte, dass Vegetarier naive Menschen seien. Naiv deshalb, weil sie glaubten, mit ihrer Lebensweise etwas verändern zu können. Das führe automatisch dazu, dass sich Vegetarier für bessere Menschen hielten. Dies zeige sich unter anderem darin, dass so viele Veganer oder Vegetarier ihre Mahlzeiten auf Facebook präsentieren würden – selbstverständlich, um anderen ein schlechtes Gewissen zu machen. Viel besser sei es, das Leben zu genießen, sich einen Schuss Unvernunft zu bewahren und hin und wieder Grenzen zu überschreiten. Die Tirade endete mit der Aussage, dass Vegetarier letztlich verkappte Spießer seien.

Mit dieser Argumentation wird Fleischverzehr zu einer Form von Rebellion erklärt. Nur wogegen? Unabhängig davon, dass die Expertin auf ihrem Foto so gar nicht nach Genuss oder Rock ’n’ Roll aussah. Abgesehen davon, dass es auf mich traurig wirkt, wenn Menschen Genuss in erster Linie über die Art der Nahrungsaufnahme definieren. Ungeachtet dessen, dass die Aussagen der Frau mit einem bräsigen Überlegenheitsgefühl gezuckert sind, frage ich mich: Woher weiß sie das? Quellen hat sie nicht genannt, nicht über ihre Erfahrungen berichtet. Nur Behauptungen aufgestellt. Ich fühle mich nicht als besserer Mensch. Mich interessiert mein Vegetarismus gar nicht mehr. Mich interessiert aber, dass ich mich dafür rechtfertigen muss.

Gutmenschen gegen Schlechtmenschen

Die Expertin liegt mit ihrer Polemik im Trend, und das verweist auf ein tiefer liegendes Phänomen. Auf viel Applaus brauche ich zumindest im Internet nicht zu hoffen. Wer in Online-Leser-Kommentaren auch der seriösen Zeitungen Zuspruch erhalten will, muss auf Tierschützer, Vegetarier, Feministinnen, politisch Korrekte oder Helikoptereltern einholzen, auf alle also, die nach Gutmenschen riechen. Die Gutmenschen, heißt es dann, seien Ideologen, Fanatiker. Dass aber die Kommentare meist von eben diesem ideologischen Fanatismus durchsetzt sind, den die Kommentatoren anprangern, erschüttert die Selbstzufriedenheit nicht. Wer sich hier wem überlegen fühlt, wird schnell deutlich. Der Schlechtmensch erlegt den Gutmenschen. Und der Schlechtmensch scheint sich geradezu zwanghaft bestätigen zu müssen, auf der richtigen Seite zu stehen. Es ist paradox.

Ich habe jetzt einmal nachgezählt auf Facebook. Und ich habe tatsächlich einen Vegetarier unter meinen Freunden gefunden, der in der vergangenen Woche ein Bild von einer vegetarischen Mahlzeit gepostet hat. Vielleicht tat er das, um der Welt seine moralische Überlegenheit vorzuhalten, ich weiß es nicht. Was allerdings, frage ich mich, wollen mir dann die exakt neun Freunde auf Facebook mitteilen, die in derselben Zeitspanne Fotos von Zwiebelrostbraten, Salamipizza, Serranoschinken und einem panierten Schnitzel gepostet haben? Nichts vermutlich. Welche Erkenntnis Experten daraus ziehen können? Keine. Außer jener: Fotos von Mahlzeiten auf Facebook zu veröffentlichen ist nie wirklich originell – egal ob mit Gemüse oder Fleisch.