Berlin, Istanbul und jetzt auch Stuttgart: frisch und vor allem kalt gepresstes Obst und Gemüse ist schwer angesagt. Eine kleine Saftkunde und die alles entscheidende Frage, ob man eine Karotte im Kreis drehen oder häckseln sollte.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Neulich in Berlin, Prenzlauer Berg. Die Fruchtbarkeitsquote in diesem Stadtteil ist hoch, die Einheimischen nennen das Viertel wegen der hohen Kinderdichte Pregnancy Hills. Viele schöne Menschen schieben wunderschöne Kinder mit noch schöneren Namen über die breiten Bürgersteige. Vor einem besonders clean aussehenden Geschäft wirbt eine Tafel für „Satans Pipi“ in Schnapsgläsern. Eine gezielte Provokation der vegan aussehenden Sojalatte-Mütter?

 

Weit gefehlt. Bei Satans Pipi handelt es sich um einen Weizengras-Ingwer-Cocktail, der mit einem Hauch Oregano-Öl verfeinert als Shot im Schnapsglas daherkommt. Klingt gesund, schmeckt auch so, wobei diese Reduzierung gemein wäre angesichts der brennenden Wirkung, die die Oregano-Reduktion auf der Lippe veranstaltet. Wie können sich die Tropfen gegen den scharfen Ingwer durchsetzen?

Nicht jeder Saft ist automatisch kalt gepresst

Der Anbieter bJuice an der Berliner Kollwitzstraße ist nur einer der vielen schönen neuen Saftläden, die in den Großstädten derzeit eröffnet werden. „Cold pressed juice“ lautet das Zauberwort, Saft ist sozusagen das neue Street Food: Wer etwas auf sich hält, bestellt den neun Euro teuren Apfel-Orange-Spinat-Saft.

Die Verfechter der neuen Kalt-Gepresste-Säfte-Religion legen Wert darauf, dass nicht alle Säfte kalt gepresst sind. Bei herkömmlichen Saftpressen werde durch die Zerkleinerung und durch die Zentrifugalkraft Wärme erzeugt, die wiederum Enzyme und Vitamine zerstöre, schreiben zum Beispiel die bJuice-Macher auf ihrer Website. Beim kalt gepressten Saft würden Obst und Gemüse dagegen zu einer feinen Maische zerkleinert.

Cold pressed juice ist Trinkbare Rohkost

Und was soll nun der Vorteil der süßen Saft-Revolution sein? „Cold pressed Juice ist die einfachste Möglichkeit, seinen täglichen Bedarf an frischem Gemüse und Obst zu sich zu nehmen. Trinkbare Rohkost sozusagen. Wir benutzen pro 500-Milliliter-Flaschen zwischen zwei und drei Kilogramm Obst oder Gemüse“, erklärt der Stuttgarter Moritz Marwein, der mit seiner Partnerin Aylin die Saftbar Jüs in Istanbul betreibt.

Der Trend der kalt gepressten Säfte kommt, natürlich, wie alle Ernährungshypes der vergangenen Jahre von Street Food bis Burger aus den USA und ist ähnlich wie die Entscheidung zur veganen Lebensweise mittlerweile eine identitätsstiftende Maßnahme. „Aylin hat vor Jahren in einer der ersten Cold-Pressed-Juice-Firmen in New York gearbeitet und war Assistentin der „Detox-Lifestyle“-Begründerin Natalia Rose. Wir wollten nach dem Studium beide in Istanbul bleiben und vor allem Aylin wollte diesen Trend in die Türkei bringen, da hier alternative Ernährungsweisen noch rar sind“, sagt Moritz Marwein, dessen Vater der grüne Landtagsabgeordnete Thomas Marwein ist. Laut Moritz Marwein hat die kleine Saftflasche in New York mittlerweile den Starbucks-Becher ersetzt. Die alte Firma seiner Freundin Aylin habe alleine in Manhattan 30 Filialen.

Seit kurzem wird auch in Stuttgart im Fluxus dem gepressten Obst und Gemüse gehuldigt

Seit kurzem wird auch in Stuttgart dem gepressten Obst und Gemüse gehuldigt. Sandro Trovato und Elisabeth Zettner haben in der Zeitgeist-Mall Fluxus am Rotebühlplatz die Saftbar Lala eröffnet. Während des Interviews in ihrem reduzierten Laden gehen die Kunden ein und aus und bestellen sich Saft-Shots in ulkigen Ampullen. „Einige Stammkunden haben ihren morgendlichen Espresso durch einen organischen Booster ersetzt, das sind kleine 4-cl-Shots, zum Beispiel Weizengras-Zitrone“, sagt Zettner.

Dabei sind Trovato und Zettner keine Verfechter der reinen, kalten Lehre. „Ich weiß nicht, ob es wirklich so einen großen Unterscheid macht, ob sich eine Karotte 35 Minuten im Kreis dreht oder sie gehäckselt wird“, sagt die 27-jährige Zettner. Künftig wollen die beiden mit Ernährungsberatern zusammenarbeiten, um personenbezogene Kuren anbieten zu können. „Das soll alles noch ein bisschen fundierter werden, wir wollen nicht nur Saftkuren anbieten, sondern ein umfassendes Ernährungsprogramm und Vorschläge für begleitenden Sport“, sagt der ebenfalls 27-jährige Sandro Trovato, der ein talentierter Skateboarder ist und auf den Saft-Trip bei einem Ausflug nach Barcelona kam.

Barcelona, Berlins Schwester im Geiste mit mehr Meer, hat bei Ernährungstrends ebenfalls eine Schrittmacherfunktion inne. „Auf dem Weg vom Skaten zum Strand haben wir uns mit Saft eingedeckt und dann gesagt: Das fehlt bisher in Stuttgart, eine richtige Saftbar, die machen wir künftig selber“, erzählt Sandro Trovato.

In der stressigen Eröffnungswoche gab es mehr Fast Food als frische Säfte

Für das Saft-Design bei Lala ist Elisabeth Zettner zuständig. Sie öffnet eine Excel-Tabelle auf ihrem Rechner. Die Spalten sind zum Beispiel unterteilt in Beauty, Entgiftung, Entspannung, Immunsystem oder Fitness. Darunter stehen die Zutaten, die für den jeweiligen Zweck kombiniert werden können. Ihr Lieblingssaft besteht aus Ananas, Kokosmilch, Kurkuma und Mango. Sandro Trovato schwört dagegen auf Apfel, Banane, Mango und Spinat.

In der stressigen Eröffnungsphase hat die persönliche Ernährung von Sandro Trovato und Elisabeth Zettner übrigens ein wenig gelitten: „Wir sind kaum zum Essen gekommen und haben uns ausschließlich von Fast Food ernährt in der ersten Woche. Die Burger haben mich in der Phase durch den Tag gerettet“, erzählt Zettner. Zum Glück sitzt die studierte Modedesignerin an der Quelle: Der ein oder andere Saft hat zum Ausgleich zur fettigen Kost ganz bestimmt nicht geschadet.

Entscheidende Unterschiede im Geschmack zwischen Deutschen und Türken

Zum Schluss dieser kleinen Saftkunde schalten wir noch einmal kurz nach Istanbul zu Moritz Marwein. Wie lautet seine Einschätzung: Ist der Saft-Hype ein vorübergehendes Phänomen oder eher Teil einer fundamentalen Änderung der Ernährungsgewohnheiten? „Ich bin überzeugt, dass Cold pressed Juice eine gute Ergänzung zu jeglicher Ernährungsweise ist. Wenn man es dem Kunden einfach macht, sich gesünder zu ernähren, kann sich ein solches Produkt trotz eines relativ hohen Preises langfristig halten.“

Letzte Frage: Hat Marwein ein Jahr nach Eröffnung seines Jüs Unterschiede im Geschmack zwischen Deutschen und Türken feststellen können? „Ja, aber vor allem abseits des Saftes. Unser deutscher Döner ist hundert mal besser als der türkische. Meine türkischen Freunde bestätigen das übrigens. Auf unsere Produkte bezogen würde ich sagen, dass Türken unseren Rote-Bete-Saft lieben. Damit wäre ich in Deutschland etwas skeptischer.“