Genug Kalorien, aber nicht alle nötigen Nährstoffe – vor allem in der ersten Lebensphase ist der sogenannte „Hidden Hunger“ schädlich. An der Uni Hohenheim in Stuttgart diskutieren 300 Experten über Maßnahmen gegen den verborgenen Hunger, den es auch in Deutschland gibt.

Stuttgart - Hans Biesalski setzt auf Information und Kommunikation. „Ernährungswissenschaftler unterhalten sich vor allem mit sich selbst“, sagt der Hohenheimer Ernährungswissenschaftler, der derzeit mehr als 300 seiner Kollgen aus der ganzen Welt zum zweiten „Hidden Hunger“-Kongress der Uni Hohenheim nach Stuttgart geholt hat. Das einzige Thema, das in Sachen Ernährung in der Öffentlichkeit vorkomme, sei Übergewicht, klagt er. Hier gebe eine entsprechende Lobby. Unterernährung werde außerhalb der Fachkreise eher totgeschwiegen. „Obwohl das nicht nur in den Entwicklungsländern ein Thema ist, sondern direkt vor unserer Haustüre stattfindet“, erklärt Biesalski.

 

„Hidden Hunger“ bedeutet versteckter Hunger. Zwar haben viele Menschen genug zu essen, so dass sie ihren Energiebedarf decken können und nicht hungern müssen, doch ihre Ernährung ist zu einseitig, ihnen fehlen Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente. Aber gerade diese Substanzen sind notwendig für die gesunde Entwicklung eines Kindes im Mutterleib und vor allem auch in den ersten beiden Lebensjahren. „Ist die schwangere Frau mangelernährt, schadet das dem Fötus. Das Kind entwickelt sich langsamer, kommt kleiner zur Welt, und die neurologische Entwicklung ist gestört“, berichtet der US-Experte Robert Black vom Zentrum für internationale Gesundheit der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore. Eine Mangelernährung in den ersten beiden Lebensjahren habe Konsequenzen für das ganze Leben mit gravierenden Folgen für die körperliche und geistige Entwicklung.

Die Liste der Erkrankungen durch Nährstoffmangel ist lang: Bei Vitamin-A-Mangel ist die Sehkraft gestört, im schlimmsten Fall droht die Erblindung. Zudem ist das Vitamin wichtig für die Entwicklung eines funktionierenden Immunsystems. Mangelernährte Kinder sind sehr viel häufiger krank als gut genährte. Fehlendes Jod stört die neurologische Entwicklung und die Funktion der Schilddrüse. Das Blut braucht Eisen, um den Sauerstoff transportieren zu können, ein Mangel führt zu Blutarmut. Zudem ist Eisen wichtig für die Lernfähigkeit und Konzentration. Häufig mangelt es auch an Zink – damit wird das Wachstum gehemmt. Fehlen diese Stoffe in der ersten Lebensphase, seien die daraus entstehenden Gesundheitsprobleme langfristig kaum mehr zu beheben, sagt Joachim von Braun, Leiter des Bonner Zentrums für Entwicklungsforschung bei der Hohenheimer Konferenz.

Mangelernährt und trotzdem übergewichtig

Auch die für den Menschen lebenswichtige Allianz mit Bakterien ist gestört, wie jüngst wissenschaftliche Studien gezeigt haben. Das sogenannte Mikrobiom, die Lebensgemeinschaft des Menschen mit Bakterien, kann sich bei Mangelernährung nicht entwickeln. „Eine Studie in Malawi, mit Zwillingspaaren, die im Fachmagazin ,Science‘ veröffentlicht wurde, hat ergeben, dass bei mangelernährten Kindern die klassische Bakterienflora im Darm nicht gebildet wird“, berichtet Hans Biesalski. Als Folge davon verliere der Darm die für die Verdauung notwendigen Zotten. Damit kann die Nahrung nicht mehr richtig resorbiert werden, also wichtige Nährstoffe aus dem Nahrungsbrei nicht in den Körper aufgenommen werden. Da helfe später auch keine Supplementierung, sagt Biesalski.

Für den Laien hört sich das nach einer Problematik in den Entwicklungsländern an. Doch auch in den hochentwickelten Nationen Europas oder den USA gibt es den verborgenen Hunger. „Hier sind Lebensmittel zwar im Überfluss vorhanden, aber immer mehr Menschen können sich eine ausgewogene Ernährung nicht mehr leisten“, warnt Biesalski. Es fehlten zwar ausführliche wissenschaftliche Studien, doch erste Hinweise aus den Nachbarländern gebe es. Eine Studie mit brandenburgischen Kindern habe zudem gezeigt, dass besonders in armen Familien das Einkommen nicht ausreiche für eine ausgewogene und abwechslungsreiche Ernährung. Die betroffenen Kinder seien kleiner.

Zudem gehe Mangelernährung oft mit Übergewicht einher. „Energiereiche Lebensmittel enthalten weniger Mikronährstoffe, sind aber billiger“, so Biesalski. Weil das Einkommen etwa von alleinerziehenden Müttern und arbeitslosen Eltern nicht für eine ausgewogene Ernährung ausreiche, schlägt Biesalski die kostenlose Verpflegung in den Kindertagesstätten nach skandinavischem Vorbild vor. Das erscheine zwar zunächst viel zu teuer, berechne man jedoch die Folgeschäden durch die Mangelernährung etwa durch Entwicklungsverzögerungen und daraus entstehende Erkrankungen, lohne sich diese Investition zigmal. Dabei gehe es beim Essen für die Kinder nicht nur darum, dass es gesund sei. Vielmehr müsse es auch schmecken, fordert Biesalski. Er führt das Beispiel Frankreich an: Hier bekämen die Caterer klare Vorgaben, unter anderem die, dass das Essen lecker sein müsse.

Damit das Angebot einer Mensa von den Schülern auch angenommen werde, sei auch hier Information wichtig. Bereits in den Grundschulen gehöre die Ernährungserziehung in den Unterricht. Dabei könne man die Frage klären, „warum ich denn überhaupt gesund und nicht einfach irgendetwas essen soll“. Kochen als Fach in der Schule biete sich auch an: Wie man knackiges Gemüse und nicht nur Matsch zubereitet, interessiere die Schüler durchaus. Diese Erfahrung hat Biesalski schon oft gemacht. In den höheren Klassen sollte man die Ernährungsethik diskutieren: „Dazu gehört beispielsweise, warum der Mensch bestimmte Stoffe braucht. Und beispielsweise eine vegane Ernährung in der Entwicklung oder in der Schwangerschaft fatal sein kann“, so Biesalski. Auch im Medizinstudium wären Grundkenntnisse in der Ernährung hilfreich – doch komme dies hier gar nicht vor.