Am 1. Juni wird mit dem Gotthardbasistunnel der längste Eisenbahntunnel der Welt eröffnet. Der Direktor des Schweizerischen Bundesamtes für Verkehr, Peter Füglistaler, erwartet jetzt von Deutschland einen raschen Ausbau der Rheintalbahn.

Erstfeld - Herr Füglistaler, der Gotthardbasistunnel ist für die Schweiz das Jahrhundertbauwerk. Wie profitiert Baden-Württemberg vom Tunnel und der gesamten Neuen Eisenbahn-Alpentransversale (Neat)?

 

Der Rhein-Alpen-Korridor verbindet die wirtschaftsstärksten Gebiete in Europa: angefangen von Rotterdam über das Ruhrgebiet bis nach Norditalien zur Po-Ebene und zu den Mittelmeerhäfen in Genua. Ich bin überzeugt, dass Europa weltwirtschaftlich nur eine Chance hat, wenn wir die Kräfte bündeln, also die Wirtschaftsräume enger verbinden. Da liegt Baden-Württemberg im Zentrum und hat große Chancen für seine Wirtschaft, schon bisher nach Norden – und der Gotthardtunnel schafft jetzt die Verbindung in den Süden.

Lange wurde sehr kritisch berichtet über fehlende Anschlüsse im Süden, in Italien. Der eigentliche Flaschenhals liegt doch aber eher im Norden?

Ja, im Süden haben wir mehr Optionen, es gibt verschiedene Linien in den Süden, und Italien hat auch zum Teil mit Hilfe der Schweiz jetzt die Ausbauarbeiten in Angriff genommen. Im Norden haben wir im wesentlichen nur die Rhein-Achse, die auf vier Spuren ausgebaut werden soll. Da gab es sehr viele Einsprüche, die Projekte haben sich lange verzögert. Ich bin froh, dass Deutschland jetzt auch die Bedeutung dieses Ausbaus für das eigene Land entdeckt hat.

Sie sagen das etwas vorsichtig. Es gibt wichtige Teilstrecken, für die noch nicht einmal das Planfeststellungsverfahren läuft.

Ja, vor fünf Jahren hatten wir wirklich nichts, nur Widerstand. In diesem Frühjahr hat jetzt der Deutsche Bundestag eine Milliarde Euro für Mehrkosten bewilligt, es gibt einen Projektbeirat, der sich auf eine Linienführung am Oberrhein geeinigt hat – ich sehe da schon eine Bewegung. Sie ist noch etwas zögerlich und langsam, aber es geht in die richtige Richtung.

Warum ist auf deutscher Seite so wenig Bewegung, was den Ausbau der Zulaufstrecken betrifft?

Die Neat war schon Anfang der 1990er Jahre ganz klar ein europäischer Transitkorridor, deshalb hat die Schweiz in Verträgen mit Italien und mit Deutschland vereinbart, dass auch die Zufahrten ausgebaut werden sollen. Die Schweiz hat oft einen etwas längeren Zeithorizont, um etwas zu realisieren – und in Deutschland hat es etwas Zeit gebraucht, bis man wirklich geglaubt hat, dass dieser Gotthardtunnel tatsächlich kommt. In diesem Sinne ist die Eröffnung ein Zeichen für Europa, es ist ein Leuchtturmprojekt. Ich gehe fest davon aus, dass jetzt das Bewusstsein wächst, dass die Neat eine ganz große Chance ist, insbesondere auch für den süddeutschen Wirtschaftsraum. Es wird aber sicher bis 2030 dauern, bis die ganz Achse im Rheintal fertig ist. Ich hoffe, dass jetzt Deutschland in derselben Konsequenz diese Zufahrten realisiert, wie die Schweiz die Neat umgesetzt hat.

Reisende aus Deutschland profitieren zunächst kaum vom Gotthardtunnel. Aufgrund schlechter Taktung müssen sie weiterhin relativ lange Umsteige- und Wartezeiten in Kauf nehmen. Ist hier Besserung in Sicht?

Die Reisenden profitieren von der Verkürzung der Fahrzeit durch den Gotthardbasistunnel. Im Moment dauert es noch eine Stunde von der Nordseite am Vierwaldstättersee bis nach Bellinzona. In Zukunft wird es 20 Minuten dauern. Die Reisezeiten verkürzen sich für alle. Aber wir haben noch offene Punkte im Verkehr, gerade von und nach Stuttgart. Da sind wir noch nicht am Optimum. Die Regierung in Stuttgart bemüht sich sehr, dies zu verbessern, aber es braucht auch noch die Hilfe der Regierung in Berlin.

Das Treffen der wichtigsten Regierungs- und Bahnchefs bei der Tunneleröffnung am 1. Juni ist ein guter Anlass, hier die entsprechenden Weichen zu stellen . . .

Es wird ein Ruck durch Europa gehen, wenn man sieht, was hier entstanden ist. Wir sind in Vorleistung gegangen. Ich gehe davon aus, dass die anderen Länder auch ihren Beitrag leisten und gewisse Projekte etwas schneller auf den Weg bringen, als es jetzt den Anschein macht.

Was sind die größten Hausaufgaben, die die Deutschen noch haben?

Aus Schweizer Sicht ist das sicher der Nordanschluss an den Gotthard, die Rhein-Achse – das ist das Herzstück. Ferner gibt es Optimierungsbedarf auf der Gäubahn zwischen Stuttgart und Singen im Personenverkehr und außerhalb Baden-Württembergs auch bei der Verbindung zwischen München und der Schweiz.

Der Gotthardtunnel ist in erster Linie ein Güterverkehrsprojekt. Die Gütermenge, die täglich durch Europa transportiert wird, wächst von Jahr zu Jahr. Ist der Tunnel nicht bald schon wieder überholt und an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit? Kann er mit dem Wachstum des Güterverkehrs Schritt halten?

Mit diesen Güterachsen durch die Schweiz schaffen wir die Kapazität bis mindestens ins Jahr 2040, so wurde es auch geplant. Die Gotthard-Achse wird am Anfang nicht voll ausgelastet sein, hier haben wir wirklich auf die nächsten 20 bis 30 Jahre vorausgedacht. Wir haben große Kapazitätsreserven, und wir sind alle sehr froh, wenn sich diese schnell füllen und mehr Gütertransporte von der Straße auf die Schiene verlagert werden.